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Bewusste Rückkehr in den Osten

1947 kehrt sie nach Berlin zurück, in ein Land, das ihr "ganz beklemmend und ganz unwahrscheinlich frostig" vorkommt. Noch 1948 schreibt sie an Georg Lukács : "Ich habe das Gefühl, ich bin in die Eiszeit geraten., so kalt kommt mir alles vor...'Hier im Volk der kalten Herzen' - unter diesem Satz ist auch ein Briefwechsel von Anna Seghers aus dem Jahr 1947 herausgegeben worden.

Gleichwohl erklärt sie gleich nach ihrer Ankunft einer Berliner Zeitung: " Ich will durch die Bücher, die hier entstehen werden, verhindern helfen, dass die Fehler der Vergangenheit jemals wiederholt werden." Als sie einmal gefragt wurde, warum sie sich für den "DDR-Sozialismus" entschieden habe, der doch mit dem von ihr vertretenen "metaphysischen Kommunismus" so wenig gemein habe, antwortete sie: "Weil ich hier die Resonanz haben kann, die sich ein Schriftsteller wünscht...weil ich hier ausdrücken kann, wozu ich gelebt habe."

Nach ihrem Exil begab sich die Autorin zuerst nach Berlin-Zehlendorf, wo sie früher schon gelebt hatte, später nach Ost-Berlin. Hier bewohnte sie den zweiten Stock eines Mietshauses. Vermutlich ist sie auch deshalb in den östlichen Teil Deutschlands zurückgekehrt, weil sie von den westlichen Alliierten als Flüchtling nur Ablehnung erfahren hatte. Ihr Mann folgte ihr erst 1952 nach Ostberlin und brachte noch eine Nebenfrau mit.(Bekannte der Eheleute nannten ihn hinter Annas Rücken "das achte Kreuz".) Anna Seghers schaute weg und übte sich in Selbstdisziplin, wie in der Öffentlichkeit so auch in der Familie.

Nach ihrer Rückkehr beteiligte sich Anna Seghers, die ihre politische Identität stets vor ihre nationale Herkunft gestellt hatte, intensiv am literarischen und kulturellen Leben der DDR. Sie war Präsidentin des Schriftstellerverbandes der DDR von seiner Gründung 1952 bis zu ihrem Rücktritt im Jahr 1978 und vertrat die DDR auf internationalen Kongressen und Tagungen. Auch in der Weltfriedensbewegung arbeitete sie aktiv mit. Über verschiedene Kontinente und Epochen hinweg wollte sie, nach eigenem Bekunden, "Gedächtnis der Revolution" sein und sowohl "Die Kraft der Schwachen" als auch "Die Unzerstörbarkeit des Humanen" bezeugen. Sie wird eine öffentliche Person und fährt dank ihrer Privilegien 1951 nach China und bald darauf nach Brasilien. Zu Hause jedoch liest ihr Mann ihre Manuskripte und kommentiert sie schriftlich. Die Gesinnungsprüfung findet sozusagen in den eigenen Wänden statt. Hat sie eigene Impulse unterdrücken müssen, Wünsche, Erkenntnisse und Befürchtungen? Wie hat sich der selbst auferlegte Zwang auf ihre Literatur ausgewirkt? Ihre beiden DDR-Romane "Die Entscheidung"(1959) und "Das Vertrauen"(1968) wurden von der westdeutschen Kritik einhellig abgelehnt. Reich-Ranicki sah in ihnen erschütternde Dokumente "der Kapitulation des Intellekts, des Zusammenbruchs eines Talents, der Zerstörung einer Persönlichkeit" und fragte: " Warum sollte man einen Verleger daran hindern, den hiesigen Leuten zu zeigen, was aus Anna Seghers, die einst Meisterwerke deutscher Prosa schrieb, in der DDR geworden ist?" Auch andere westliche Kritiker sahen in diesen Büchern den Beweis dafür, dass sie sich nach ihren grandiosen schriftstellerischen Erfolgen am Ende verraten, ja ihren literarischen Offenbarungseid geleistet habe und selbst zur unbelehrbaren Vertreterin jener finsteren Gegenmächte geworden sei, die sie in ihren Erzählungen so oft zu bannen wusste. Die Literatur, so meinen viele, habe sich gerächt, an ihrem allzu naiven Versuch, sie im Namen der Politik zu missbrauchen. Am Ende sei ihre sprachliche Ausdruckskraft ganz und gar verkümmert. Tatsächlich sind in diesen beiden Romanen, aber auch in der Erzählung "Die Rückkehr", die auf der Mainzer Tagung besprochen wurde, die kräftigen Farben der Propaganda nicht zu übersehen. Wie man diese Romane auch lesen und verstehen will, die programmatischen Bestimmungen der SED umging sie in ihnen jedenfalls nicht.

Zu einem negativen Urteil kam jüngst auch Fritz Raddatz in seiner Rezension zu der aus dem Nachlass herausgegebenen Erzählung "Jans muss sterben", die der Sohn von Anna Seghers erst 2000 zwischen Papieren, die die Autorin 1940 bei der Flucht aus Paris zurücklassen musste, gefunden hat.

Es ist die Geschichte von Marie und Martin Jansen, die ihre Liebe füreinander längst begraben haben. All ihre Hoffnungen knüpfen sie an ihr Kind. Doch eines Tages fällt es einer unerklärlichen Krankheit zum Opfer. Der Kummer trennt die Eltern noch mehr; jeder verschließt eifersüchtig seine Angst und seine Qual, die sie fast zerreißen.

Diese Erzählung aus dem Jahr 1925, die nie zuvor publiziert und nun aus dem Nachlass ediert wurde, wirkt wie eine Kollwitz-Grafik von den armen Leuten. Sie wirft die Frage auf, soll man evident Unfertiges nach dem Tode des Autors der Öffentlichkeit vorlegen? Immerhin ähnelt der Text mehr einem Skizzenblock als einem Buch. "Ein schön-schauriges Buch", schreibt Raddatz. "Schön, weil es vorweist eine hoch begabte Schriftstellerin, fähig, mit kargen Sätzen Bilder und Atmosphäre zu schaffen: traurig, weil es nachweist, wie sehr die späte Anna Seghers ihr Talent verschlampt hat." Ob ihre literarische Schaffensquelle am Ende wirklich versiegt ist und ihr Denken stagnierte, müsste freilich noch genauer untersucht werden.

Als im Herbst 1956 sowjetische Panzer durch die Straßen von Budapest rollten und den Versuch der Ungarn, sich von dem gewalttätigen Sowjetsystem zu befreien, abrupt beendeten, fielen unzähligen Menschen in Europa, wie Mančs Sperber sich ausdrückte, "die Scherben von den Augen". Nur die weltberühmte Schriftstellerin Anna Seghers bekannte sich weiterhin zur Partei, zum Kommunismus und zur DDR, so wie sie es nach der langen blutigen stalinistischen Epoche am 17.Juni 1953 getan hatte, am Tag des Mauerbaus von 1961, beim"Prager Frühling" von 1968, bei der heftigen DDR-internen Debatte um die Biermann-Ausweisung. Warum sie jedesmal öffentlich schwieg, ist nur schwer, letztlich nur spekulativ zu deuten.

Jedoch begann sie in den Monaten nach dem Desaster in Ungarn mit der Niederschrift der unvollendet gebliebenen Erzählung "Der gerechte Richter", deren Fragment erst nach dem Mauerfall 1990 veröffentlicht wurde. Kenner messen diesem literarischen Fund biographische Bedeutung bei. Anna Seghers, die Präsidentin des DDR-Schriftstellerverbandes, die Stalin- und National-Preisträgerin, die Gesprächspartnerin von Ulbricht und Honecker, erzählt hier die Geschichte eines DDR-Richters, der sich dagegen wehrt, Handlanger der Mächtigen in einem Schauprozess zu werden. Hat sie zu jener Zeit die Wahrheit erkannt und den Machtmissbrauch der DDR-Obrigkeit hier literarisch verarbeitet?

Auf jeden Fall geriet sie dann mehr und mehr in den Zwiespalt zwischen den erträumten und den real existierenden Verhältnissen. Ihr Verleger, der Verlagsleiter Walter Janka, hat ihr nach dem Mauerfall vorgehalten, zu seiner Verhaftung im Jahre 1957 geschwiegen zu haben. Es gibt indessen auch Dokumente, die für die Dichterin zu sprechen scheinen. Nach diesen soll sie sich für Janka, der unschuldig zu fünf Jahren Zuchthaus verurteilt worden war, eingesetzt haben. Hinter den Kulissen habe sie sich, so erzählt man sich jetzt, häufig bei Ulbricht oder Honecker für Kollegen und Freunde engagiert, um sie vor Unheil zu bewahren. Tatsächlich notierten die Spitzel der Stasi eine "empörte Haltung der Seghers zugunsten des Janka". Wie jetzt offenbar wird, hat die Staatssicherheit Anna Seghers wohl lückenlos ausspioniert. Eine 500-seitige Akte aus der Gauck-Behörde zeigt von ihr ein noch unbekanntes Bild, nämlich das Bild einer zwar überzeugten Kommunistin, die dennoch die DDR-Herrscher immer wieder misstrauisch machte. Als SED-Chef Ulbricht ihr zum 65.Geburtstag gratulierte, antwortete Seghers vor dem versammelten Politbüro: hoffentlich seien die "schönen Worte" auch "aufrichtig gemeint". Für diese Provokation wurde sie zur Aussprache bei Walter Ulbricht einbestellt. Ärger gab es ferner, als sie sich für den Schriftsteller Alexander Solschenizyn, der den Nobelpreis bekommen sollte, verwandte.

In diesem Zusammenhang sei hier eine kleine amüsante Anekdote wiedergegeben. (Ich habe sie von Katja Lange-Müller aus der "Literarischen Welt" vom 18.11.2000.) Anna Seghers liebte die Sommerfrische am Meer und fuhr, wenn es ihre Zeit erlaubte, gern nach Ahrenshoop in das Schriftstellerheim. Auch Johannes R.Becher hatte dort eine prachtvolle Hütte, doch die Nackten dort, die gerne in der Sonne braten, störten ihn und ärgerten ihn gewaltig. Er organisierte sogar Kampagnen gegen den "niveaulosen Freikörperkult". Eines Tages, als er wieder einmal am Strand entlang ging, lag vor ihm eine Frau im Weg, nackt, etwas knochig, nicht mehr ganz jung, ohne Gesicht, denn das war mit einem Doppelblatt des "Neuen Deutschland" zugedeckt. "Schämen Sie sich nicht, Sie alte Sau", sagte Becher. Die Frau nahm die Zeitung vom Gesicht; es war Anna Seghers. Ein paar Monate später stand die Seghers auf der Bühne. Becher, in der Würde seines Amtes, wollte ihr den Nationalpreis erster Klasse an die Brust heften und streckte ihr die Hand entgegen. "Liebe Anna", sagte er, "darf ich dir.."aber da fiel ihm die Seghers ins Wort, so laut, dass die Genossen auf den Plüschsesseln in den ersten fünf Reihen es auch hörten:"Für dich, Hans, immer noch die alte Sau."

Öffentlich verteidigte sie freilich den"Aufbau des Sozialismus" und warnte vor der "Kriegstreiberei der Nato", weil sie keine Alternative zu dem sah, was 1917 als weltbeeinflussendes Experiment begonnen hatte. Sie hatte sich nun einmal für die DDR entschieden und wollte sich ihren großen Traum nicht mehr nehmen lassen. Zudem begann bald nach ihrer Rückkehr die Zeit des Kalten Krieges, des Schwarzweißdenkens in Ost und West. Für Anna Seghers, die sich der internationalen Friedensbewegung verpflichtet fühlte, war ein Verlassen der DDR ebenso undenkbar wie lautstarke Opposition gegen "ihren" Staat. Wenn sie in der Bundesrepublik zu Lesungen und Diskussionen erschien, ließ sie sich von ihren inneren Spannungen nichts anmerken. Es gab für sie eben keine andere Alternative als geduldiges Warten auf bessere Zeiten. Statt noch einmal zu fliehen, wollte sie lieber wie ihr Protagonist in "Transit" "auf einem vertrauten Boden verbluten", "Gutes und Böses mit meinen Leuten" teilen, statt sich den Fliehenden anzuschließen.

Nach dem Tode ihres Mannes im Jahr 1978, mit dem sie die Exiljahre geteilt hatte und mit dem sie trotz seiner Eskapaden bis zu seinem Tod verheiratet geblieben war, zog sie sich immer mehr zurück. Sie starb im Alter von 83 Jahren am 1.6.1983 in Ostberlin.

In ihrer letzten Schaffensphase, etwa ab 1970, hat sie, wie auf der Mainzer Tagung wiederholt betont wurde, nicht mehr über die DDR geschrieben, sondern ging in die romanischen Länder, so in" Karibische Geschichten", oder schilderte wie in der Erzählung "Reisebegegnung" eine imaginäre Begegnung von E.T.A.Hoffmann, Franz Kafka und Nikolai Gogol. Tagungsteilnehmer äußerten sogar die Vermutung,dass aus ihren späten Werken desillusionierte Töne herauszuhören seien. Was sie wirklich gefühlt und gedacht hat, ist schwer auszumachen, da sie in ihrem Werk die eigene Biographie kaum sichtbar werden ließ. Was sie alles hinter einer Maske von Disziplin und Arbeitsethos verbarg, wissen wir nicht. Liebte sie doch zeitlebens das Versteckspiel. Freunde aus den DDR-Jahren berichten, dass sie Gespräche abbrach, wenn diese allzu kritisch wurden. Sie war eine scheue, kluge, humorvolle, sich in einer Männerwelt erfolgreich durchsetzende Schriftstellerin, die sich nie vom Stalinismus distanzierte, die von Gerechtigkeit und Frieden träumte und sich bemühte, von ihrem Platz aus davon ein wenig mehr in die Welt zu tragen. Gewiss, sie hätte es leichter haben können, wenn sie es sich leichter gemacht hätte. Ob sie nicht doch manchmal Heimweh nach ihrer schönen Mainzer Heimat verspürt hat, habe ich mich auf der Mainzer Tagung hin und wieder gefragt.


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