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Orient und Morgenland übten auf ihn eine große Anziehungskraft aus.

"Gottes ist der Orient! /

Gottes ist der Okzident! /

Nord- und südliches Gelände /

Ruht im Frieden seiner Hände."

Als Goethe 1814 mit seinem Gedichtzyklus "West-östlicher Divan" dem Orient seine Reverenz erwies, setzte er sich dem Verdacht aus, selbst ein 'Muselmann' zu sein. Wie dem auch sei, auf jeden Fall hat Goethe mit diesem Werk schon vor rund zweihundert Jahren nichts Geringeres vorbereitet als den Dialog mit dem Islam. Die Strategie, die er hierbei verfolgte, beruhte auf gründlicher Beschäftigung mit dem scheinbar Fremden. Bei Goethe endete sie in Anerkennung, ja in der Überzeugung, dass der Koran neben der Bibel das wichtigste religiöse Dokument der Menschheitsgeschichte sei. Goethe kam dabei sogar zu dem Fazit: "Das einzige und tiefste Thema der Welt- und Menschengeschichte, dem alle übrigen untergeordnet sind, bleibt der Konflikt des Unglaubens und des Glaubens." (Divan 1819)

Die Elemente der verschiedenen Weltanschauungen wurden für ihn zu wesentlichen Komponenten seiner Weltanschauung, seiner Poesie, seines Lebens und seiner Lebenskunst. Leitend für Goethes Einschätzung der Weltreligionen und ihres Verhältnisses zueinander ist einmal seine Anschauung der Natur als Pandämonium, als eines Neben- und Miteinanders des Verschiedenen, zum andern sein Begriff der Kulturentwicklung, die stufenweise Aufeinanderfolge, die Gegensatz und Synthese, Polarität und Steigerung beinhaltet und die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen gestattet. So ergänzen nach seinem Verständnis die verschiedenen Weltreligionen einander. Jede leistet zu einer bestimmten Zeit in der Geistesgeschichte ihren Beitrag zur Entfaltung der Humanität, wobei ihre Elemente zu unterschiedlichen Zeiten wirksam werden können.

Goethe hat sich nicht nur im "West-östlichen Divan" mit außereuropäischen Religionen intensiv befasst hat. Als neue Vorbilder, sinnstiftende Figuren hat er - neben christlichen Heiligen, neben Filippo Neri und St. Rochus - manche mythologische und historische Gestalt und manche Sekte wieder entdeckt: Pelagius, Mohammed, Faust, Ahasver, Prometheus, Luzifer, Tantalus, Ixion und Sisyphos, Spinoza und Machiavelli, die Arianer oder die Hypsistarier.

In einem Brief an Sulpiz Boisserée schreibt Goethe, er rechne sich "zur Sekte der Hypsistarier, welche zwischen Heiden, Juden und Christen geklemmt, sich erklärten, das beste, vollkommenste, was zu ihrer Kenntnis käme, zu schätzen, zu bewundern, zu verehren, und insofern es also mit der Gottheit in nahem Verhältnis stehen müsse, anzubeten."

Unter dem 11.März 1832 notiert Eckermann: "Das Gespräch wendete sich auf große Menschen, die vor Christus gelebt, unter Chinesen, Indern, Persern und Griechen und dass die Kraft Gottes in ihnen ebenso wirksam gewesen als in einigen großen Juden des Alten Testaments. Auch kamen wir an die Frage, wie es mit Gottes Wirkungen stehe in großen Naturen der jetzigen Welt, in der wir leben."

"An den ältesten Männern und Schulen gefiel mir am besten", offenbarte Goethe in "Dichtung und Wahrheit", dass Poesie, Religion und Philosophie ganz in Eins zusammenfielen, und ich behaupte jene meine erste Meinung nur um desto lebhafter, als mir das Buch Hiob, das Hohe Lied und die Sprichwörter Salomonis ebenso gut als die Orphischen und Hesiodischen Gesänge dafür ein gültiges Zeugnis abzulegen schienen.

Auch ist der Dichter im Alter durchaus bereit, das Christentum als kulturellen, ethischen und geistigen Faktor des Abendlandes anzuerkennen, als dessen Teil er sich weiß, ohne indessen zu theologisch-dogmatischen Fragen wie Jenseitsglauben dezidiert Stellung zu nehmen und seinen aus Natur, Vernunft und Schöpferdrang abgeleiteten Gottesbegriff religiös zu präzisieren. Mit seinem Beharren darauf, den unerforschbaren Gott als höchste Wirklichkeit nur in seiner Schöpfung zu suchen und zu erfahren, steht Goethe über jeder Konfession.

Denken, Wissen, Bildung, Humanität und Menschenwürde vereinigen sich bei ihm zum Glauben an eine zwar nicht ungefährdete, aber stetige Höherentwicklung der Menschheit, wobei die Wanderung des Menschen durch die Zeiten in der Ehrfurcht vor dem kulminiert, was über uns, was uns gleich und was unter uns ist, und im Staunen - "Zum Erstaunen bin ich da" -, das zur Anerkennung der Transzendenz herausfordert und nur mystisch zu begreifen ist. Was Goethe bewegte, war heilige Scheu und Ehrfurcht vor dem Ewigen, dem Geheimnis, dem Unerforschlichen, das es "ruhig zu verehren" gilt. Gegenüber dem, was Geheimnis bleibt, hilft, laut Goethe, nur Respekt und Anerkennung. Erst so vermag eine Philosophie der Religion das Unendliche mit dem Endlichen zu vereinen und dem einzelnen eine metaphysische Bedeutung zurückzugeben, die es immer schon in sich trägt.

Gnostisches und magisches Denken aus Goethes Frühzeit kehrt nun in erweiterter Form zurück. Doch hierüber in angemessener Form zu reden, das bleibe, meint Goethe, allein der Kunst, der Dichtung und der Poesie vorbehalten.

In seinem letzten Lebensabschnitt vertritt Goethe, nach Hans Barner, wieder religiöse und theologische Anschauungen, wie er sie einst unter der Maske des Pastors erteilt hat. An seinem Gottesbild treten wieder die schon bekannten Hauptzüge ans Licht: Geist, Weisheit und Liebe. Gottes Weisheit ist zwar weiter unerforschlich und seine Liebe unergründlich und unermesslich. Soweit er sich offenbart, sieht und verspürt Goethe ihn in allen Erscheinungen der Natur und Geschichte, in allen Ideen des Menschengeistes und seiner einzelnen Träger.

Das Thema der Ehrfurcht wird mit Betrachtungen zur "fortwirkenden Tätigkeit" verbunden, die für Goethe die entscheidende Voraussetzung für Unsterblichkeit ist. Gegenwärtige und zukünftige Entelechie - das Seiende, das seine Bedeutung in sich trägt - gehören zusammen. "Aber wir sind nicht auf gleiche Weise unsterblich, und um sich künftig als große Entelechie zu manifestieren, muss man auch eine sein", sagte Goethe im Gespräch mit Eckermann am 1.September 1829.

Jedoch Hinweise auf Wiedergeburt, die manche Interpreten entdeckt zu haben glauben, sind in seinem Werk nur spärlich zu finden, in "Dank des Paria" heißt es zwar "Alle hast du neu geboren" , im "Divan" "Ich war wie neu geboren" und im Schlusssatz von Prometheus: "Wenn alles - Begier und Freud und Schmerz- /

Im stürmenden Genuss sich aufgelöst, /

Dann sich erquickt in Wonneschlaf,- /

Dann lebst du auf, aufs jüngste wieder auf, /

Aufs neue zu fürchten, zu hoffen und zu begehren!"

Man kann aber dieses Neugeboren durchaus im Sinne von Verjüngung auffassen. Auf Wiedergeburt könnte dagegen folgender Vers an Frau von Stein anspielen:

"Sag', was will das Schicksal uns bereiten? /

Sag', wie band es uns so rein genau? /

Ach, du warst in abgelebten Zeiten /

Meine Schwester oder meine Frau."

An Wieland schreibt er: "Ich kann mir die Bedeutsamkeit, die Macht, die diese Frau über mich hat, anders nicht erklären als durch Seelenwanderung. Ja, wir waren einst Mann und Weib!"

Und vielleicht gehört auch noch der folgende Vers in diesen Zusammenhang:

"Lange habe ich mich gesträubt, /

endlich gab ich nach, /

wenn der alte Mensch zerstäubt, /

wird der neue wach." /

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"Denn so lang du das nicht hast, /

Dieses Stirb und werde! /

Bist du nur ein trüber Gast /

Auf der dunklen Erde." /

Zu Wielands Tod 1813 und in den Gesprächen mit Eckermann hat Goethe seine Gedanken zur Transzendenz und zur Wiedergeburt explizit formuliert.

"So sehe ich", sagte Goethe in einem Gespräch mit Johann Daniel Falk am 25.1.1813, "wirklich nicht ab, was die Monade, welcher wir Wielands Erscheinung auf unserm Planeten verdanken, abhalten sollte, in ihrem neuen Zustande die höchsten Verbindungen dieses Weltalls einzugehen. Durch ihren Fleiß, durch ihren Eifer, durch ihren Geist, womit sie so viele weltgeschichtliche Zustände in sich aufnahm, ist sie zu allem berechtigt. Ich würde mich so wenig wundern, dass ich es sogar meinen Ansichten völlig gemäß finden müsste, wenn ich einst diesem Wieland als einer Weltmonade, als einem Stern erster Größe, nach Jahrtausenden wieder begegnete und sähe und Zeuge davon wäre, wie er mit seinem lieblichen Lichte alles, was ihm irgend nahe käme, erquickte und aufheiterte.

Wahrlich, das nebelartige Wesen irgendeines Kometen in Licht und Klarheit zu verfassen, das wäre wohl für die Monas unseres Wielands ein erfreuliche Aufgabe zu nennen, wie denn überhaupt, sobald man die Ewigkeit dieses Weltzustandes denkt, sich für Monaden durchaus keine andre Bestimmung annehmen lässt, als dass sie ewig auch ihrerseits an den Freuden der Götter als selig mitschaffende Kräfte teilnehmen. Das Werden der Schöpfung ist ihnen anvertraut. Gerufen oder ungerufen, sie kommen von selbst auf allen Wegen, von allen Bergen, aus allen Meeren, von allen Sternen, wer mag sie aufhalten?"

Die Hoffnung auf ein Weiterleben, auf Unsterblichkeit hat Goethe offensichtlich beseelt. Einen wichtigeren Hinweis enthalten sicherlich folgende Zeilen:

"Es kann die Spur von meinen Erdentagen/Nicht in Äonen untergehen.-Im Vorgefühl von solchem hohen Glück/Genieß ich jetzt den Augenblick." (Faust II)

Und: Zu Kanzler von Müller äußerte sich Goethe am 19.Oktober 1823, dass es "einem denkenden Wesen durchaus unmöglich" sei, "sich ein Nichtsein, ein Aufhören des Denkens und Lebens zu denken."

Und: "Der Tod ist nur der Wonneschlaf", in dem sich "alles" auflöst, um dann "aufs jüngste wieder aufzuleben...von neuem zu fürchten, zu hoffen, zu begehren."

Wie Goethe zu Eckermann sagte, sei er der festen Überzeugung, "dass unser Geist ein Wesen ganz unzerstörbarer Natur" sei. "Es ist ein fortwirkendes von Ewigkeit zu Ewigkeit, es ist der Sonne ähnlich, die bloß unsern irdischen Augen unterzugehen scheint, die aber eigentlich nie untergeht, sondern unaufhörlich fortleuchtet."

Goethe gestand im Hinblick auf Unsterblichkeit der Kirche einen wichtigen Auftrag zu, als er 1829 bekannte: "Die christliche Religion ist ein mächtiges Wesen für sich, woran die gesunkene und leidende Menschheit von Zeit zu Zeit sich immer wieder emporgearbeitet hat; und indem man ihr diese Wirkung zugesteht, ist sie über alle Philosophie erhaben und bedarf von ihr keiner Stütze. So bedarf der Philosoph nicht das Ansehen der Religion, um gewisse Lehren zu beweisen, wie zum Beispiel die einer ewigen Fortdauer. Der Mensch soll an Unsterblichkeit glauben, er hat dazu ein Recht, es ist seiner Natur gemäß und er darf auf religiöse Zusagen bauen."

Gedanken an Unsterblichkeit und möglicher Wiedergeburt waren dem Dichter offensichtlich nicht ganz fremd und unlieb.

So soll Goethe bis an sein Lebensende die Anschauung von der Wiederkunft aller geteilt haben. Allerdings hielt er es nicht für ratsam, diese Lehre zu verkünden, weil er wohl fürchtete, dadurch den Ernst der sittlichen Forderung abzuschwächen. Goethe sei später dieser Gefahr dadurch entgangen, meint Barner, "dass er eine Reinkarnation der Seelen zum Zweck der Vervollkommnung annimmt."

Allerdings entsprechen Goethes wiederholt geäußerte Vorstellungen von Unsterblichkeit, Fortdauer nach dem Tod und ewigem Leben nicht der dogmatischen kirchlichen Auffassung und waren zeitlebens, soweit die kurzen mündlichen Äußerungen ein Urteil erlauben, nur geringen Schwankungen unterworfen. Die Berechtigung des Unsterblichkeitsglaubens leitet er weder aus dem Dogma noch aus anderen Beweisversuchen ab, die ihm als müßige Spekulation über unbegreifliche Dinge erscheinen, sondern aus der Ewigkeit der Natur und der Monade und seinem persönlichen Begriff unermüdlicher Tätigkeit und Tüchtigkeit, die sich auch in einer anderen Existenzform fortsetzen müssten.

In Goethes letztem Lebensjahrzehnt wird die Frage nach der Religion vorrangig zu einer Frage der Sittlichkeit. Weniger die Suche nach einer göttlichen Instanz, gar einer äußeren Macht interessiert Goethe. Wichtig werden ihm Ethos und Ehrfurcht, Menschlichkeit und Einheit als philosophische Summe des Denkens und Lebens.


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