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Dichter haben Nietzsche anders wahrgenommen als Philosophen

Dichter haben Nietzsche jedoch anders wahrgenommen als Philosophen. Während sich Philosophen um die richtige Deutung seiner Werke bemühten, stellten ihn Dichter in den großen poetischen Welt-Diskurs und erkannten als erste, dass mit Nietzsche ein neues Zeitalter der Welt-Deutung begonnen hat. Im Gegensatz zu den Philosophen haben die Dichter auch keine Nietzsche-Tradition errichtet. Vielmehr nahm sich jeder von Nietzsche, was er brauchen konnte. Dabei haben Dichter und Schriftsteller Nietzsches Anliegen oft besser erfaßt als die meisten Philosophen, zumal sie fast alle auf den Menschen Nietzsche eingegangen sind.

Nur dem Begabten indes gelang der Sprung in die eigene Stillage, die anderen blieben Epigonen. Nietzsche ist ein aufschlussreicher Probierstein, an ihm schieden sich die Geister. Nicht alle waren der neuen Wahrheit gewachsen, die besagt, dass es keine Wahrheit und, metaphysisch gesehen, keinen absoluten Standpunkt mehr gibt, sondern dass angesichts der unendlichen Deutbarkeit der Welt nur noch die Wahrhaftigkeit des Einzelnen übriggeblieben sei.

Nicht wenige erkannten nur, was ihnen ohnehin schon bekannt war. Die frühe literarische Nietzsche-Rezeption war oft recht oberflächlich. Man las ihn anfangs nicht sehr aufmerksam, ohne seinen Deutungsansatz zu verstehen. Dafür war man schnell begeistert, projizierte in Nietzsche die eigenen Wunschträume hinein, zitierte ihn nach Belieben und nahm ihn viel zu wörtlich. Nietzsches Philosophie wurde verfälscht und verdreht, etwa ins Antisemitische wie in Hermann Conradis Roman "Adam Mensch"(1889), während der bald einsetzende triviale Übermenschenkult vielfach einem infantilen Verhalten zur Rechtfertigung diente. Da Nietzsche den vehementen Beginn seines Ruhms nicht mit klarem Bewusstsein wahrgenommen hat, blieb ihm auch erspart, den Missbrauch seiner Gedanken mitansehen zu müssen. In seichten Romanen und Moralauffassungen versickerte sein Denken bei Michael Georg Conrad, Adolf Wilbrandt, Paul Heyse, und einer Reihe anderer Schriftsteller, die man heute kaum noch dem Namen nach kennt. Nietzsche wurde trivialisiert und banalisiert, auch durch romanhafte Schwärmereien, zum Beispiel bei der Gräfin zu Reventlow und bei Detlev von Liliencron. Liliencrons Begeisterung von 1889, die er in dem Satz ausdrückte, Nietzsche "war der geistig höchst stehende Deutsche" ist freundlich gemeint, steht aber auf schwachen Füßen. Mit forscher Pennälermentalität urteilte Liliencron über Nietzsche: "Es ist selbstverständlich, dass die guten Bier- und Skatdeutschen ihn nicht kennen. Es ist empörend."

Richard Dehmel schrieb in jungen Jahren einen sentimentalen "Nachruf auf Nietzsche". Hochmütig reagierte dagegen 1907 Johannes Schlaf mit seinem umfangreichen Buch "Der Fall Nietzsche. Eine Überwindung." Julius Hart(1899) wiederum unterstellte Nietzsche, er habe polnisches Blut in seinen Adern und gehöre mithin einer "minderwertigen Rasse" an.

Auch ernst zu nehmende Schriftsteller haben Nietzsche mitunter emphatisch abgelehnt. Gerhart Hauptmanns Ausspruch:" "Nietzsche war nicht unser Mann" bezieht sich zum Teil auf den Freundschaftsbruch mit Richard Wagner. Allerdings blieb auch auf Hauptmann(1962-1946) Nietzsche nicht ohne Wirkung, doch zeigte sich diese erst dort deutlich, wo sich Hauptmann von Milieu, Charakter und Sprache des Naturalismus abkehrte.

Nietzsche sei wie "Rattengift im Gedärm" schrieb der sozialistische Schriftsteller Franz Mehring. Aber Sozialisten und Marxisten haben sich mit Nietzsche ohnehin kaum anfreunden können genau so wenig wie er sich mit ihnen.

Zum Kreis der frühen Bewunderer gehörten dagegen Christian Morgenstern, Graf Keßler, Rudolf Pannwitz. Morgenstern(1871-1914)schrieb:"Man sieht Nietzsche ins Auge und weiß, wo das Ziel der Menschheit liegt." Morgenstern stand, vor allem in jungen Jahren, ganz im Bann Nietzsches und ließ sich von ihm zu Sprachspielen und sensiblen philosophisch religiösen Gedichten anregen. Sie erschienen unter den Titeln "Ich und Du" und "Wir fanden einen Pfad". Bei diesen Gedichten haben allerdings auch der Buddhismus und die Anthroposophie mit Pate gestanden. Die Gedankenwelt Zarathustras, Nietzsches Sprach- und Bildwelt hat Morgenstern mit übernommen. Doch später in seinen Galgenliedern, in den Motiven und in der geistigen Haltung, führt er nur noch die Trümmer der Zarathustrawelt vor. Parodistisch wird der "Übermensch" in "Phantas Schloß" behandelt.

Die Dichter, die um die Jahrhundertwende zu wirken begannen, und jene, die ihnen unmittelbar nachfolgten, zählten zu den Generationen, die von Nietzsche am stärksten beeinflusst wurden, weil Nietzsche für diese Autoren, die durchweg in einer Atmosphäre aufgewachsen waren, in der sie glaubten ersticken zu müssen, Befreiung bedeutete: Reinhard Johannes Sorge, Georg Heym, Gottfried Benn, Ernst Maria Richard Stadler, Stefan Zweig, Robert Musil, Carl Sternheim, Georg Kaiser, Alfred Döblin, Hermann Hesse, Rainer Maria Rilke, Thomas und Heinrich Mann, Stefan George, Gerhart Hauptmann, Frank Wedekind, Ernst Barlach und Rudolf Borchardt.

Ein außergewöhnlich kritischer Nietzsche-Leser war Alfred Döblin(1878-1957). Allerdings hat sich Döblin heftig gegen Nietzsches Nihilismus gewehrt und ist dann zu dem Schluss gekommen: "Nietzsches im modernen Sinne positivistische Moral fällt bei aller zu ihrer Darstellung entfalteten Genialität ins Leere." Aus Döblins Schriften geht übrigens hervor, dass er Nietzsches Werke tatsächlich gelesen hat, was man nicht von allen Autoren sagen kann, die Nietzsches Namen in der Feder führen. Alfred Döblin brauchte Nietzsche, behauptet Bruno Hillebrand, zur metaphysischen Klarstellung der Moralsituation seiner Zeit. Er verfasste unmittelbar nach der Jahrhundertwende zwei Schriften über Nietzsche, die alles in den Schatten stellen, was damals geschrieben wurde. Hätte er sie ausgearbeitet und veröffentlicht, wäre die Deutung von Nietzsches Philosophie, vermutet Hillebrand, in andere Bahnen geraten.

Kurt Tucholsky(1890-1935) lobte 1929 Nietzsche dafür, "dem Deutschen wieder eine Prosa gegeben zu haben. Drei Jahre später hat derselbe politische Satiriker der "Weltbühne" Nietzsche wegen seiner großen Widersprüchlichkeit und Unentschiedenheit kritisiert. Tucholsky schrieb: "Sage mir, was du brauchst, und ich will dir dafür ein Nietzsche-Zitat besorgen. Bei Schopenhauer kann man das nicht so leicht. Bei Nietzsche ..für Deutschland und gegen Deutschland, für den Frieden und gegen den Frieden, für die Literatur und gegen die Literatur - was Sie wollen." Doch im selben Jahr noch bestand Tucholsky auf einer Unterscheidung zwischen den Schriften des Philosophen und den entstellenden Machenschaften des Archivs und verlangte: "Wir wollen nicht mehr die Werke Lieschen Försters, sondern die Werke Friedrich Nietzsches lesen."

Oskar Maria Graf(1894-1967) reflektierte 1915 über Egoismus und Gemeinsamkeit, über Herz und Gefühl, unter Berufung auf Christus, Strindberg, Nietzsche, Whitman und Dostojewski. In den frühen vierziger Jahren im amerikanischen Exil fragte er sich indessen, wie "die Naziepidemie ..in der einfachen Menschenvernunft Fuß fassen" konnte. Seine Antwort.."weil die ganze europäische Intelligenz den so dithyrambisch wohlklingenden Gewaltmythos des Herrn Nietzsche angenommen hat."

Auch Bertolt Brecht(1889-1956)hat sich zu Nietzsche, zumindest über seinen Zarathustra, geäußert und zwar in folgendem Fragment:

Du zarter Geist, dass dich nicht Lärm verwirre

Bestiegst Du solche Gipfel, dass dein Reden

Für jeden nicht bestimmt, nun misset jeden,

Jenseits der Märkte liegt nur noch die Irre.

Ein weißer Gischt sprang aus verschlammter Woge!

Was dem gehört, der nicht dazu gehört.

Im Leeren will die Nüchternheit zur Droge,

(in: Bertolt Brecht, Die Gedichte, Frankfurt/M., 1990, 613-614.)

Zudem läßt sich in Brechts Werk Nietzsches Einfluss an vielen Stellen nachweisen.

Eigentlich hat jeder, der etwas auf sich hielt, in der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts seine Meinung über Nietzsche kund getan, auch Karl Kraus. Dieser meinte 1933, für den Ausruf, "welche Wohltat ist ein Jude unter Deutschen" drohten Nietzsche heutzutage "ein Jahrtausend Konzentrationslager."

Ricarda Huch(1864-1947)soll in ihrem Roman "Aus der Triumphgasse", wie jüngst der Literaturwissenschaftler Michael Meyer festgestellt hat, den Vitalismus Nietzsches zusammen mit Schopenhauers Willensmetaphysik übernommen und von Nietzsches Philosophie den Gedanken der Ewigen Wiederkehr adaptiert haben.

Ihr Bruder Rudolf Huch(1862-1943) behauptete, dass "Götz von Berlichingen" und "Die Leiden des jungen Werther" die Literatur jener Zeit nicht annähernd so beeinflusst hätten wie der "Zarathustra unsere moderne, wesentlich von Damen bereitete Lesekost."

Max Kommerell verglich Nietzsche und Stefan George(1868-1933) miteinander und schrieb:"Bestimmte Lieder Georges und Nietzsches klingen gleich, aus gleichem geistigen Schicksal." Beide haben symbolische Bücher geschrieben: "Zarathustra" der eine, "Stern des Bundes" der andere. Auch wenn keine biographischen Zeugnisse über eine Auseinandersetzung Georges mit Nietzsche vorhanden sind, so ist doch Nietzsches Einfluss auf Stil und Inhalt der Gedichte Georges deutlich zu spüren. Gemeinsam ist beiden eine antinaturalistische Haltung, der Versuch einer Erneuerung der Sprache, die Überzeugung, dass nur das große Individuum imstande sei, das Chaos zu formen und der heidnisch-antike neu erwachte Körpersinn sowie eine tiefe Abneigung gegen Mittelmäßigkeit, Verfall, Langeweile und gegen die Routine der Gegenwart. Stefan George gelang allerdings, was Nietzsche nicht geschafft hat, der Aufbau eines "weltlichen Klosters", einer Gemeinschaft von Gleichgesinnten. Viele Anhänger des George-Kreises haben zu Nietzsche Stellung bezogen:Ernst Bertram, Ernst Gundolf und Kurt Hildebrandt. Nietzsches Einsicht in die grundlegende Antinomie von Schönheit und Wahrheit, Kunst und Philosophie, Wahn und Weihe haben sich indessen George und sein Kreis nie zu eigen gemacht.

Ludwig Marcuse bekennt in seinen Lebenserinnerungen, dass es ihm schwergefallen sei, Bücher von Autoren zu lesen, die ihn nicht hinrissen wie Nietzsche, der junge Marx und wie Freud. Egon Friedell befand "Nietzsche war ein Sprengmittel."


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