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"Die jüdische Mutter"

Im Nachlass Gertrud Kolmars fand sich ein umfangreicher Prosatext, der 1930/31, wenige Wochen nach dem Tod ihrer Mutter entstanden war und 1965 erstmals gedruckt wurde. Es handelt sich dabei um den Roman "Die jüdische Mutter". In vielen Details spiegelt er autobiografische Erfahrungen Kolmars im Berlin der zwanziger Jahre, den stärker werdenden Antisemitismus und die gleichzeitige Notwendigkeit, sich mit der eigenen jüdischen Identität auseinander zu setzen.

Gertrud Kolmar hat hier ein ungewöhnliches Thema aufgegriffen: das Sittlichkeitsverbrechen an einem Kind. Sie erzählt von einer verwitweten jungen Frau, der Jüdin Martha Wolg, die für sich und ihre kleine Tochter Ursa den Lebensunterhalt als Fotografin verdient. Eines Abends, als sie von der Arbeit heimkehrt, ist die Fünfjährige verschwunden. Erst am nächsten Morgen entdeckt Martha ihr Töchterchen in einer abgelegenen Arbeiterbude: an dem Kind ist ein Sittlichkeitsverbrechen verübt worden. Da die seelischen Schäden, wie sich in der Klinik herausstellt, weitaus schwerer wiegen als die körperlichen, die dem Kind zugefügt worden sind, flößt Martha dem Mädchen ein tödliches Schlafmittel ein. Niemand hat die Tat bemerkt. Sie selbst glaubt, den Täter finden und das Verbrechen rächen zu müssen und zu können. Vehement fordert sie Gerechtigkeit. Als sie einen flüchtigen Bekannten ihres verstorbenen Mannes trifft, hofft sie, dass er ihr bei der Fahndung helfen werde und lässt sich mit ihm ein. Als dieser indes von ihrer Tat erfährt, graut ihm vor der Frau, und er verlässt sie. Martha Wolg verwindet das Verbrechen nicht. Die Schuld um das getötete Kind und die Schmach der am Ende zurückgewiesenen Liebe werden übermächtig. Da sie mit ihren traumatischen Erfahrungen nicht fertig werden kann, geht sie in die Spree und findet auf ihrem Weg ins Wasser ihr totes Kind wieder.

Martha Jadassohn, die jüdische Mutter wirkt herb, abweisend und auf den ersten Blick alles andere als sympathisch. Mit ihrer Verschlossenheit und Radikalität schreckt sie viele Menschen aus ihrer Umwelt ab. auffallend ist in dieser beklemmenden Darstellung der alttestamentarische Ruf nach Gerechtigkeit, ähnlich wie in dem Gedicht "Wir Juden" (Das Lyrische Werk S.101).


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