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Wandlung des jungen"Musterchristen"zum Verächter des Christentums

Doch wie kam es bei Nietzsche, dem Sohn aus einem konservativ und pietistisch gestimmten Pfarrhaus, zu dieser Entwicklung?

Nietzsches Elternhaus war ein Hort protestantischer Frömmigkeit. Durch Generationen war die Familie dem lutherischen Glauben verbunden. Geachtet, gottesfürchtig, rechtschaffen und provinziell, verkörperte sie alle Tugenden und Überzeugungen des deutschen Pfarrhauses, von denen ihr begabtester Spross sich im Laufe seines Lebens so weit und nachdrücklich entfernen sollte. Während seiner Jugend war Nietzsche mit verschiedenartigen Glaubensrichtungen bekannt geworden, die pietistisch erweckliche war für ihn dabei dominant. Stammten doch beide Eltern aus dieser Pfarrhaustradition. Sein Vater, der Pastor Carl Ludwig Nietzsche aus Röcken (Sachsen) wählte für die Taufe seines Sohnes als Bibelspruch die Frage der lukanischen Kindheitsgeschichte: "Was meinst du, will aus diesem Kindlein werden?" Diese Frage hat Nietzsche später mit dem Satz beantwortet:"Ich bin, auf griechisch und auf nicht griechisch, der Antichrist."In seiner Kindheit nannten ihn seine Schulfreunde wegen seines Ernstes und seines Bibelwissens, halb anerkennend, halb ironisch, den "kleinen Pastor". Nietzsche war in der Tat ein ernstes, nachdenkliches Kind, das sich in der Bibel gut auskannte und von rührender Frömmigkeit war. Bezeichnend für seine religiöse Entwicklung ist die Bemerkung seines Jugendfreundes Paul Deussen, der von der "heiligen, weltentrückten Stimmung" zu berichten wusste, von der die beiden Freunde zur Zeit ihrer Konfirmation erfüllt waren. 1861 wurden beide konfirmiert. In Nietzsches Nachlass fand sich der ebenso knappe wie erstaunliche Satz:"Als Kind Gott im Glanze gesehen." Ein ungelenkes Jugendgedicht mit dem Titel "Du hast gerufen" gipfelt in dem Bekenntnis "Von Lieb entglommen/strahlt mir so herzlich/schmerzlich/dein Blick ins Herz ein, Herr, ich komme."

"Ich bin eine Pflanze, nahe dem Gottesacker geboren", schreibt der Neunzehnjährige in einer autobiographischen Skizze. Aber schon als Knabe berichtet er von seinen Zweifeln, "ob nicht zweitausend Jahre die Menschheit ein Trugbild irregeleitet hat." Die Nähe zu Christen und seine Herkunft aus dem protestantischen Pfarrhaus nahmen dann für ihn eine andere Bedeutung an, sobald ihm bewusst zu werden begann, dass die Christen in ihrem Christsein zumeist nicht vollkommen sind. Der innere Erdrutsch, der dann das Gebäude seines Kinderglaubens lautlos zum Einsturz brachte, vollzog sich nicht abrupt, sondern ganz langsam, zunächst mit der glänzenden logischen und philologischen Schulung in Pforta. Diese führte ihn unbemerkt und unversehens in eine kritische Distanz zum Glauben seiner Väter. Die Zweifel am Christentum und dessen völlige Ablehnung waren zunächst also eine unbeabsichtigte Folge von Nietzsches Ausbildung. Er selbst rühmte sich später, dass er als Atheist in Schulpforta niemals das Tischgebet mitgesprochen habe und dass er auch nie zu den üblichen Gebetsübungen herangezogen worden sei. Beeinflusst wurde Nietzsches Gesinnungswandel auch durch entsprechende Lektüre, vor allem durch das Buch"Leben Jesu" von David Friedrich Strauß, den er schon als Schüler zum Entsetzen seiner Familie gelesen hatte. Diese Anregung wirkte fort. (Später allerdings hat Nietzsche, als er die "Unzeitgemäßen Betrachtungen" schrieb, Strauß heftig angegriffen, weil Strauß in seinem Spätwerk zu einem optimistischen Lebensgefühl auf der Grundlage der Wissenschaft seiner Zeit gekommen war, wonach die Welt vernünftig und gut sei.) Außerdem wirkte sich der Einfluss einiger Lehrer auf Nietzsche aus, die mit Entschiedenheit die historisch kritische Methode, eine Spätfrucht der Aufklärung, vertraten. Gleichwohl hatte Nietzsche bei seinem Schulabgang noch keineswegs mit Christentum und Religion gebrochen. Das Fach Religion hat ihn bis zuletzt interessiert. Im Reifezeugnis ist vermerkt:"Im Unterricht bewies er reges und lebendiges Interesse an den Heilslehren des Christentums, eignete sich dieselben leicht und sicher an, verband damit ein gutes Verständnis des neutestamentlichen Grundtextes und verstand es auch, mit Klarheit sich darüber auszusprechen. Es wird ihm deshalb das Prädikat vorzüglich erteilt, wie er denn in der mündlichen Prüfung vorzüglich bestand."

Religiöse Tradition wurde Nietzsche auch in Bonn durch theologische Vorlesungen und eigene theologische Lektüre vermittelt. Er hatte sogar dem Drängen seines Elternhauses nachgegeben und ein Theologiestudium an der Bonner Universität begonnen, wechselte aber bald zur klassischen Philologie über. In Bonn traf er auf eine mehrheitlich katholische Umgebung und war auch dort noch anfangs bestrebt gewesen, seinen christlichen Glauben existentiell zu leben. Zudem ist er hier Menschen begegnet, für die Leben und Glauben zu einer Einheit verschmolzen. Die durch sie erlebte Praxis der Frömmigkeit(praxis pietatis)hat auf Nietzsche mehr Wirkung ausgeübt als tote Bücherweisheit. Überdies findet man bei Nietzsche, auch in späteren Jahren, Sätze, die mit seiner antichristlichen Einstellung unverträglich erscheinen. In einem Brief an seinen Freund Peter Gast vom 21.7.1881 schreibt er:" Mir fiel ein, lieber Freund, dass Ihnen an einem Buche (Morgenröthe) die beständige innerliche Auseinandersetzung mit dem Christentum fremd, ja peinlich sein muss, es ist aber doch das beste Stück idealen Lebens, welches ich wirklich kennengelernt habe, von Kindesbeinen an bin ich ihm nachgegangen, in viele Winkel und ich glaube, ich bin nie in meinem Herzen gegen dasselbe gemein gewesen. Zuletzt bin ich der Nachkomme ganzer Geschlechter von christlichen Geistlichen - vergeben Sie mir diese Beschränktheit!" Immer wieder hat der gesunde Nietzsche fest in ihrem christlichen Glauben stehende Bekannte, vor allem auch seine Mutter, inständig gebeten, seine "von einem ganz anderen Standpunkte" geschriebenen Werke nicht zu lesen.

Nietzsche, der immerhin von beiden Eltern aus Pfarrersfamilien stammt und die Wirkung der Bibel zu bejahen vermag, sagte auch:"Ich rechne es mir zur Ehre, aus einem Geschlecht zu stammen, das in jedem Sinne Ernst mit seinem Christentum gemacht hat." Nietzsche hat seine Nähe zu Christen und seine Herkunft aus einem protestantischen Pfarrhaus durchaus als etwas Unersetzliches bewertet.

Überdies hat er sich zur Bibel zeit seines Lebens längst nicht so ablehnend verhalten wie später zur christlichen Kultur und zur Kirche. Vom Alten Testament sagte er, in ihm gebe es "Menschen, Dinge und Reden in einem so großen Stile, dass das griechische und indische Schrifttum ihm nichts zur Seite zu stellen hat."

Von größter Tragweite wird für ihn bald die Berührung mit der Musik Richard Wagners, und zum entscheidenden Bildungserlebnis gerät ihm dann die Lektüre der Werke Schopenhauers, in denen Schopenhauer das Christentum als eine Religion der Lebensverneinung dargestellt hat. Vor allem aber hatten die theologischen Vorlesungen, die er anfangs besucht hatte, den schon seit langem keimenden Zweifel am Christentum gefördert. Der Theologensohn Nietzsche, dem die Berührung mit strenger Wissenschaft, den Kinderglauben endgültig zerstört hatte, setzte dann an die freigewordene Stelle religiöser Erbauung die Philosophie. Bald bekennt er sich offen zu einer radikal kritisch nihilistischen Sicht der Dinge. Er beginnt mit der Bildungskritik, geht dann zur Wissenschafts- und Kulturkritik über, um sein kritisches Werk schließlich durch den Angriff auf die abendländische Moral, die Religion und auf das Christentum zu krönen.


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