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Unter Napoleon ändert sich die Lage

In Magdeburg hatten sich Juden über zweihundert Jahre lang, von 1493 bis 1705, nicht aufhalten dürfen. Erst unter König Friedrich I.erhielt 1705 der Schutzjude Abraham Liebmann, trotz Protest des Rates, die Erlaubnis, in der Stadt Handel zu treiben. Ihm folgten weitere Juden. Aber die Zahl der Schutzjuden blieb in Magdeburg lange Zeit begrenzt. Erst unter Napoleon änderte sich die Lage. Von nun an wanderten viele Juden aus Halberstadt, Anhalt und dem Herzogtum Warschau in die Stadt ein.

Um das jüdische Gemeinwesen dort zu regeln, ordnete am 21.März 1808 ein königliches Dekret die Errichtung eines Konsistoriums und die Bestellung von Syndiken zur Aufsicht über den jüdischen Gottesdienst an. Die treibende Kraft des Konsistoriums war der 1768 in Halberstadt geborene spätere Rabbiner Israel Jacobsohn. Die Universität Helmstedt verlieh ihm 1807 sogar den Ehrendoktortitel. In dieser Zeit konstituierten sich die Jacobsohnschule und die Samuelschule als Bildungsstätten für jüdische Kinder.

Unter den Fürsten Johann Georg II. und Leopold I., dem"Alten Dessauer", war in Wörlitz und im übrigen anhalt-dessauischem Gebiet die Aufnahme von Juden begünstigt worden. Nicht nur die Vieh- und Krammärkte zogen jüdische Händler nach Wörlitz. Immerhin konnten hier schon in den 60er Jahren des 18.Jahrhunderts Juden Land erhalten und "einige dieser neuen Landwirte schlugen gut ein" (Erhard Hirsch, Diss.Halle/Saale 1969). 1843 zählte man 126 Juden im Ort. Doch nach der bürgerlichen Gleichstellung und der Aufhebung der Freizügigkeitsbeschränkungen wanderten viele Familien fort, so dass sich 1910 die Gemeinde auflöste. Um die im Wörlitzer Park erbaute Synagoge zu erhalten - Herzog Franz und sein Architekt nannten sie "Vestatempel" wegen ihrer Ähnlichkeit mit den Vestatempeln in Rom und Tivoli - , kaufte sie die jüdische Gemeinde zu Dessau und hielt hier regelmäßig einmal

im Jahr einen Gottesdienst ab. Heute gehört das Gebäude zu den Sehenswürdigkeiten des Parks.

Als Fürst Leopold Friedrich Franz (1740-1817) im Jahr 1758 die Regierung übernahm, lebten in Dessau 169 jüdische Familien, ein Jahr später bereits 214 Familien. Wenngleich dieser Monarch, der als "Vater Franz" in die Geschichte eingegangen

ist, erkannte, dass es an der Zeit war, das Schutzjudenwesen abzuschaffen, und er den Juden seines Landes tatsächlich manche Verbesserung ihrer Lage bescherte, so konnte er sich doch zur Durchsetzung ihrer bürgerlichen Freiheit und Gleichstellung nicht entschließen. Stattdessen wurde 1760 der jüdische Wohnbereich auf wenige Straßen beschränkt. Erst im Dezember 1834 wurde in Dessau das Ghetto endgültig aufgelöst. Wie viele andere hatte auch der Vater des späteren Hofbankiers Moritz von Cohn, Itzig Hirsch Cohn, seinen bisherigen Wohnort Wörlitz mit der Residenzstadt Dessau vertauscht und eröffnete hier mit herzoglicher Genehmigung 1817 ein Leihhaus. Als erster Jude, dem es gestattet war, außerhalb des Judenviertels zu wohnen, bezog er ein bescheidenes Haus in der Kavalierstraße, das dann Stammsitz der Cohnschen Bank wurde. Jahre später ließ sein Sohn, der Hofbankier Baron

Moritz von Cohn, in Dessau zum Gedächtnis von Kaiser Wilhelm I. ein Denkmal errichten. Es ist wohl das einzige von mehr als 370 Wilhelm-Statuen im Deutschen Reich, das von einem Juden finanziert wurde. Aber - Werke und Andenken des 1900

verstorbenen Bankiers überdauerten nur wenige Jahrzehnte. In Dessau entstand außerdem schon 1799 eine der ersten modernen jüdischen Schulen Deutschlands, die sogenannte Franz-Schule, die Herzog Leopold Friedrich Franz finanziell förderte. Ziel der israelitischen Freischule war es, eine Generation heranzubilden, in der sich aufgeklärte deutsche Bildung, Vaterlandsliebe und Treue zur Religion der Väter

vereinten. Ihr erster Leiter war der über die Landesgrenzen hinaus bekannt gewordene David Fränkel. Er veröffentlichte seit 1806 mit "Shulamit" (hebräisch: die Friedfertige) eine der ersten jüdischen Zeitschriften in deutscher Sprache.

Bekannt geworden ist auch Moses Philippson(1775-l814), der "hebräische Grammatiker" und Verfasser des "Hebräischen Kinderfreund". Dieses Buch erfreute sich in allen israelitischen Schulen großer Beliebtheit. In der hebräischen Druckerei von Philippson, übrigens der zweiten, die in Dessau eingerichtet wurde, erschienen viele Texte in deutscher Übersetzung "zur weiteren Bildung des Judentums". Sein Sohn Ludwig Philippson, der 1811 in Dessau geborene und 1889 in Bonn verstorbene Rabbiner und Schriftsteller, war ebenfalls "ein überzeugter Verfechter humanitärer und

liberaler Ideen" und "ein eifriger Wortführer für die Rechte der Juden".

Das Land Anhalt zählte, laut Ernst Walter, im 19.Jahrhundert etwa 350.000 Einwohner. Der Hundertsatz der in Anhalt wohnenden Juden lag, schreibt Walter weiter, noch unter dem Reichsdurchschnitt. Aber die namhaften jüdischen Männer, deren Wiege in Anhalt stand: Moses Mendelssohn, Hermann Cohen, Heymann Steinthal, Ludwig Philippson, Markus Jost, Gotthold Salomon und die für das gesamte deutsche Judentum grundlegenden und hier ihren Ausgang nehmenden religiösen Einrichtungen hätten immer wieder den Blick der größeren Gesamtheit auf die hohe jüdische Kultur dieses Landes gelenkt.

1807 kam das Gebiet um Halle zum neugebildeten Königreich Westfalen, in dessen Hauptstadt Kassel König Jerôme, ein Bruder Napoleons, residierte. Diese folgenschwere Veränderung brachte den jüdischen Gemeinden entscheidende Verbesserungen ihrer rechtlichen und gesellschaftlichen Lage: Gleichheit vor dem Gesetz und freie Religionsausübung. Im 18.und 19. Jahrhundert entwickelte sich die jüdische Gemeinde in Halberstadt zu einer der bedeutendsten Gemeinden

Europas - mit manchmal über 1000 Mitgliedern.1795 hatte Hirsch Köslin aus eigenen Mitteln eine Elementarschule gegründet, in der "Kindern unbemittelter Eltern" neben Bibel, Religion und Talmud auch die deutsche Sprache, Rechnen und überhaupt die zum gesellschaftlichen Verkehr unumgänglich erforderten Kenntnisse gelehrt werden sollten. Zeitweise hat die Schule noch den israelitischen Kinderhort und die Geschäftsstelle der Synagogengemeinde beherbergt. Zu den Sozialeinrichtungen gehörte später außerdem eine Armenspeisung und ein jüdisches Altersheim.

In Glaubensfragen war die Halberstädter Gemeinde relativ orthodox und entwickelte sich, nicht zuletzt durch die wirkungsvolle Tätigkeit der Rabbinerfamilie Auerbach, geradezu zu einem Bollwerk der Orthodoxie. Verstärkt wurde diese Tendenz durch einen starken Zuzug osteuropäischer Juden ab 1914. Bis 1930 hatte hier der "Bund gesetzestreuer jüdischer Gemeinden in Deutschland" seinen Sitz und unterhielt engen

Kontakt zur orthodoxen Austrittsgemeinde Adass Jisroel in Berlin. Nicht von ungefähr, stammte Esriel Hildesheimer, der Leiter des orthodoxen Rabbiner-Seminars in Berlin, doch aus Halberstadt.

Ende des 19.Jahrhunderts siedelten sich auch in Wittenberg und zwar in der Nähe der Jüdengasse wieder zahlreiche Juden an: Kaufleute, Rechtsanwälte, Ärzte, Handwerker. Dagegen war in Gröbzig die Zahl der Juden Ende des 18.Jahrhunderts stark zurückgegangen. Bemerkenswert ist, dass die Gemeinde zur Feier der fünfzigjährigen Regierung des Herzogs Leopold Friedrich Franz 1808 eine eigens verfasste Hymne in der Synagoge gesungen hat. Aber zur Israelitischen Kultusgemeinde durfte sie sich erst 1835 konstituieren.


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