zurück vor auf Inhaltsverzeichnis


Wie hat sich die jiddische Sprache entwickelt?

Die jiddische Sprache, verbreitete sich zunächst in deutschsprachigen Gebieten und galt als Westjiddisch. Dabei unterscheidet man zwischen Altjiddisch, Mitteljiddisch und Neujiddisch. Das Jiddische hat sich aus dem Mittelhochdeutschen zu einer eigenwilligen und eigenständigen Sprache entwickelt, parallel etwa zum Holländischen. Es hat verschiedene Sprachelemente in sich aufgenommen und wurde so zum Ausdruck einer selbständigen Kultur, die jahrhundertelang vom christlichen Kulturraum ausgeschlossen war. Diese Sprachentwicklung war möglich, weil Juden geschlossene Gruppen bildeten. Andere Dialekte hingegen nivellierte der Einfluss des Hochdeutschen seit dem 16.Jahrhundert. Das Jiddische wurde dagegen zu einer selbständigen, vom Deutschen klar unterscheidbaren Sprache, dessen Schriftbild dem hebräischen Alphabet folgte.

Das Jiddische, ursprünglich Judendeutsch genannt, entstand in der Diaspora im Mittelalter, als die Juden von kirchlichen und weltlichen Instanzen immer erbarmungsloser diskriminiert, ausgegrenzt, in Ghettos zusammengepfercht und von Kreuzfahrern hingemordet wurden. Vorher hatten Juden die allgemein üblichen deutschen Mundarten gesprochen. Nun wurde das Jiddische als Produkt von Verfolgung und Exilierung bald zur privaten Sprache der Juden, die im Ghetto eigene Wege zu gehen begann. Sie reicherte sich mit zahlreichen hebräischen Elementen aus Ritus und Kultus an. Die Anfänge des Jiddischen liegen im Westen, im Elsass, am Oberrhein, von wo es sich ausgebreitet hat - als grenzüberschreitende Sprache neben dem Latein, nicht aus dem Geist der Geistlichkeit, sondern aus dem Geist des Volkes, die sich auch schon früh literarisch bewährte und, neben dem Hebräischen, eine schriftliche Tradition entwickelte.

Der Name der Sprache "Jiddisch" ist erstmals 1598 belegt. Im Deutschen ist diese Bezeichnung seit der letzten Jahrhundertwende gebräuchlich und hat die Benennungen Judendeutsch", "Jüdisch-Deutsche" und das unzutreffende "Jargon" verdrängt. Für Juden selbst bot das liebevoll als Mamme-Loschn (Muttersprache) bezeichnete Jiddisch jedoch ein wichtiges Mittel zur Stärkung der Gruppenidentität. Man konnte sich verständigen, meist ohne von der feindseligen Umgebung verstanden zu werden. So schufen sich Juden, da sie kein geographisches Territorium hatten, mit dem Jiddischen eine linguistische Heimat und pflegten drei Sprachen, hebräisch für Gebet und

Gelehrsamkeit, jiddisch für den Alltag und die Volksliteratur sowie deutsch oder einen lokalen Dialekt für den Umgang mit der nichtjüdischen Umwelt. Hebräisch bildete die Sprache der Gelehrten. Sie war die heilige Sprache, die loschen kojdesch, wie sie auf jiddisch heißt. Jiddisch war hingegen die Sprache des einfachen Volkes.

In der voraufklärerischen Zeit galt das Hebräische ausschließlich als eine von Gott empfangene Sprache, in der "die Tora gegeben und die Welt erschaffen ist." In dieser Epoche ging es vor allem um die Frage, wie diese Sprache vermittelt werden müsste, damit sie von breiten Schichten der Gesellschaft richtig gelesen und verstanden werden konnte, wenn sie die Tora studieren oder die Gebete rezitieren. In der Zeit der Haskala sollte sie die Sprache der Juden werden, so wie das Englische die Sprache der Engländer, das Französische die Sprache der Franzosen ist, nämlich die Sprache der Nation. Allerdings gelang es nicht, das Hebräische zu der Sprache der jüdischen Nation fortzuentwickeln.

Im Mittelalter, als die Juden in Europa im Ghetto lebten, mussten junge Mädchen zwar lesen und schreiben lernen, aber nur in Ausnahmefällen führte man sie an das Studium des Talmud heran. Ihre Kenntnisse der hebräischen Sprache waren daher gering. Während die Männer im Mittelalter in der Synagoge Hebräisch lernten, war dies den Frauen untersagt. Sie sprachen jiddisch und deutsch. Deshalb waren die ersten auf jiddisch verfassten Bücher für Frauen geschrieben. So entstand das Klischee, die alte jiddische Literatur sei nur für das weibliche Geschlecht bestimmt gewesen. Wäre dies tatsächlich der Fall gewesen, dann hätten diese Bücher schwerlich zum Entstehen einer Literatur in der Volkssprache beitragen können. Da diese Literatur nicht nur ausschließlichen religiösen Charakter hatte, drangen jetzt auch weltliche Belange und Unterhaltungen in die jüdische Gemeinde ein. Denn unmittelbar nach der Erfindung der Buchdruckerkunst setzte auch bei Juden eine Riesenflut von Publikationen in jiddischer Sprache ein.

Mit ihr entstand das jiddische Volkslied. Die frühesten dieser Lieder weisen auf Vorbilder der Troubadour- und Minnesängerzeit hin. Das weltliche jiddische Lied wurde von Handwerksburschen, Fuhrleuten, Schneidern und Dienstmädchen gesungen.

Die im 13.Jahrhundert in deutscher Versfassung erschienenen Sagen aus der Artussage verbreiteten sich im 14.Jahrhundert auf jiddisch in Form von Reimpaaren, wobei alle frommen christlichen Elemente getilgt wurden. Stattdessen traten häusliche Themen, Familie und Gattenliebe in den Vordergrund. Obwohl gelehrte Juden diese rein unterhaltende Literatur mit Geringschätzung betrachteten, erschien der Sagenkreis um König Artus in zahlreichen jiddischen Versionen.

Auch Gedichte über Dietrich von Bern und Meister Hildebrand und "Narrenliteratur", wie "Schildbürger" und "Till Eulenspiegel", kommen auf jiddisch vor.

Der Begriff "jiddisch" gelangte allerdings erst auf dem Umweg über Amerika nach Deutschland, behauptet Lutz-W.Wolff in seinem Vorwort zu Leo Rostens "Jiddisch. Eine kleine Enzyklopädie." "Bis zum Ende des 19.Jahrhunderts wurde die Sprache der aschkenasischen, also der mittel- und osteuropäischen Juden als "Jüdisch-Deutsch", "Iwre-Deutsch" und "Judendeutsch" bezeichnet. Er habe das "barocke Judendeutsch" erlernt, berichtet Goethe in "Dichtung und Wahrheit." Noch die frühe kaufmännische Korrespondenz der Rothschilds war auf "Judendeutsch"geführt, in hebräischer Schrift von rechts nach links, die kaum ein Nichtjude lesen konnte.

Das älteste jiddische Sprachdokument findet sich in einem Wormser Gebetbuch aus dem Jahr 1272. Es handelt sich um einen Segenswunsch: gut Tak im betage/se war dis machsor in beß hakkeneß trage! "Ein guter Tag sei dem beschieden, der dies Gebetbuch in die Synagoge trägt." Ein weiterer aus dem Jahr 1382 datierter Text in jiddischer Sprache ist das Fragment von "Gudrun- und Hildelied auf jiddisch". Es wurde 1890 in der Kairoer Genisa gefunden, jenem Raum bei der Synagoge, in dem vor allem beschädigte oder unleserlich gewordene Thorarollen, aber auch hebräisch geschriebene Korrespondenz oder Kopien aufbewahrt wurden. 1534 wurde in Krakau eine jiddisch kommentierte Enzyklopädie schwieriger Bibelstellen veröffentlicht, 1544 eine Thoraübersetzung, und aus dem 16.Jahrhundert sind Midrasch-Epen bekannt geworden.

Bildung, Gottvertrauen und Leid waren bis in das Mittelalter die Grundlage des Lebens und somit auch der Folklore.

Das Jiddische ging später in das Rotwelsch von Dieben und in die Gauner- und Bettlersprache ein mit Ausdrücken wie Kassiber, Pleite, Schmiere, Kaff, Schickse, aber auch in die Mundart von Viehhändlern und in die gesamte deutsche Sprache mit Wörtern und Wendungen, deren jiddische Herkunft oft längst vergessen ist, wie mies, kesse Biene, Fratze, schofel, Ölgötze, baldowern (aushorchen), beschummeln, mauscheln, Kaff, meschugge, Schlemasel (Tölpel), Chuzpe (Frechheit), Masel (Glück) und tacheles reden.

Vor 1750 hatte sich das Westjiddische über die deutsch- und niederländischsprachigen Länder, aber auch über Gebiete anderer Sprachen erstreckt. Um 1750 war die Sprachbildung dann abgeschlossen. Mitte des 18.Jahrhunderts ließen die Aufklärung und die daraus resultierenden Assimilationsbestrebungen die jiddische Sprache und die traditionellen Werte zurücktreten. Das Westjiddische wurde, bis auf geringe Reste, wie dem Gailinger oder Surbtaler Jiddisch etwa, zugunsten des Hochdeutschen aufgegeben.

Zur Zeit der Aufklärung begann mithin das Jiddische als Umgangssprache der deutschen Juden zu verblassen. Um 1830 wurde es nur noch von Armen, Handwerkern und der ländlichen jüdischen Bevölkerung gesprochen, während Gebildetere, das waren in erster Linie Juden, die in den Städten wohnten, mit der jiddischen Sprache nichts mehr zu schaffen haben wollten, zumal sich auch "aufgeklärte" Beamte darum bemühten, das wegen seiner Flexibilität, seines Improvisationstalents, wegen seiner wilden, scheinbar allen Regeln spottenden Grammatik verpönte Jiddisch abzuschaffen und Juden zur Erlernung des Hochdeutschen anzuleiten.

Als die Emanzipation auf der Tagesordnung stand, schrieb man 1785 in Metz einen Wettbewerb aus zum Thema "Gibt es Mittel und Wege, um die Juden in Frankreich glücklicher und nützlicher zu machen?" Offensichtlich setzte man voraus, dass Juden damals weder nützlich noch glücklich waren. Abbé Gregoire glaubte, dass man auf diese Weise das Jiddische, "diesen teusch-hebräisch-rabbinischen Jargon" auszumerzen könne, mit dem die deutschen Juden angeblich nur ihre Unwissenheit oder ihre Betrügereien bemäntelten. "Im Namen der politischen Ruhe und der Ausbreitung der Aufklärung", erklärte der Geistliche, "möge sich die Vernichtung der Mundarten durchsetzen."

Aber nicht nur die deutsche Aufklärung, auch die Haskala, die jüdische Aufklärung, stand dem Jiddischen feindlich gegenüber. Allerdings schrieben die Maskilim(Aufklärer) weiterhin, um sich verständlich zu machen, in der verachteten Volkssprache und erreichten damit nur das Gegenteil, nämlich die Begeisterung der Massen für die jiddische Sprache.

Im Verlauf der frühen Neuzeit erhielt die jiddische Sprache dann doch noch zunächst eine immer gewichtigere Rolle. Im Verlauf des 17. und frühen 18.Jahrhunderts erlangte sie als Schrift- und Unterrichtssprache sogar einen neuen Status, selbst in verschiedenen Gemeinden, und erfreute sich als Kommunikationssprache wachsender Beliebtheit, da die Hebräischkenntnisse der meisten Juden ständig geringer geworden waren. Lange Zeit hatte man die hebräischen Gebete ohne Verständnis hergeleiert. Nun zu Beginn der Neuzeit konnte man sie nicht einmal mehr lesen. Dabei hat die jiddische Sprache nicht nur als Schriftsprache im 17. und 18.Jahrhundert kontinuierlich an Bedeutung gewonnen, sondern zugleich auch eine langsame Angleichung an das zeitgenössische Deutsche vollzogen.

Erstmalig konnten Bücher in verhältnismäßig großen Auflagen auf den Markt gebracht werden, die halachische, mystische und philosophische Schriften, die bisher im Besitz einer kleinen Elite waren, einem weiteren Lesepublikum zugänglich machten. Geschichtswerke und klassische hebräische Unterweisungsliteratur erschienen in jiddischen Übersetzungen.

Gleichwohl klingt das Westjiddische allmählich aus, denn mit der fortschreitenden Befreiung der Juden aus dem Ghettoleben im 19.Jahrhundert und dem Beginn ihrer bürgerlichen Gleichstellung hatte es immer mehr an Bedeutung verloren. Nicht wenige Juden - vor allem Gelehrte, Ärzte und Hofjuden -, die in einen engeren Kontakt zur christlichen Umwelt getreten waren, beherrschten schon früh die deutsche Sprache in Wort und Schrift. Deutsch zu sprechen und zu schreiben war nämlich gerade für Juden wichtig, die sich assimilieren wollten. Zur Zeit der europäischen und jüdischen Aufklärung, der Haskala, galt der jüdische Dialekt in den Augen der Aufklärer als minderwertig und wurde in die Nähe der Gaunersprache gerückt.

Allerdings ist die jiddische Sprache niemals völlig verdrängt worden. Sie blieb in Resten des Landjudentums bestehen und wurde später von ostjüdischen Einwanderern wieder mit in den Westen gebracht. Zudem begannen im 19.Jahrhundert die Wissenschaftler des Judentums - Isaak Jost, Moritz Güdeman und Matthias Mieses sind in diesem Zusammenhang zu nennen - die jiddische Sprache als wesentlichen Faktor jüdischer Kultur zu verstehen. Anfang des 20.Jahrhunderts wurde es unter Sympathisanten des Zionismus sogar Mode, jiddische Ausdrücke zu verwenden, wie die Briefe von Betty Scholem an ihren Sohn Gershom belegen.

Kurz vor der Zerstörung des deutschen Judentums entdeckten viele seiner prominentesten Vertreter, wie etwa Arnold Zweig, Franz Kafka, Alfred Döblin, Franz Rosenzweig, Gershom Scholem und Walter Benjamin, die Welt des osteuropäischen Judentums und seiner jiddischen Kultur. Manche von ihnen versuchten sogar - wenn auch mit unterschiedlichem Erfolg -, sie zu erlernen.

Nach 1945 begegnen wir bei ostjüdischen Überlebenden, den sogenannten Displaced Persons, erneut jener jiddischen und teilweise auch hebräischen Kultur, die immer wieder die deutsch-jüdische Geschichte mitgeformt hat. Denn Jahrhunderte lang war für Juden im deutschen Raum die Mehrsprachigkeit von entscheidender Bedeutung gewesen. Die Sprache der Herkunft signalisierte Zugehörigkeit, die erworbene Sprache verhieß Aufstieg. Seit dem 18.Jahrhundert stand das Judentum dann im Kraftfeld dreier Sprachen: des Jiddischen, der Sprache der Herkunft, die im Ghetto und im Schtetl gesprochen wurde, des Hebräischen, der Sprache der geheiligten Überlieferung von Talmud und Tora, des Deutschen, dessen Beherrschung ein Zeichen der Assimilation wurde.

Der deutsch-jüdische Historiker Heinrich Graetz freilich nannte das Jiddische eine halbtierische Sprache und weigerte sich, seine "Geschichte der Juden"ins Jiddische übersetzen zu lassen. Wenn sich der jüdische Philosoph Salomon Maimon bei Diskussionen erregte, dann fiel er unbeherrscht in das Jiddische zurück, das er in seinen jungen Jahren in Polen gesprochen hatte. Die meisten assimilierten Juden hatten für den "Mischmasch" wenig übrig. Für Theodor Herzl war das Jiddische eine "Ghetto-Sprache", die sich die Juden abgewöhnen sollten. Schon der im allgemeinen kontrolliert-logisch denkende jüdische Aufklärer und Philosoph Moses Mendelssohn hielt wie seine christlichen Zeitgenossen das Jiddische für einen Jargon, für ein Zeichen schlechter Bildung, und nannte es ein "Kauderwelsch"und schlechtes Deutsch. "Ich fürchte", schrieb er 1782, "dieser Jargon hat nicht wenig zur Unsittlichkeit des gemeinen Mannes beigetragen, und verspreche mir sehr gute Wirkung von dem unter meinen Brüdern seit einiger Zeit aufkommenden Gebrauch der reinen deutschen Mundart." Sieht man das psychologisch, so mag man eine Andeutung von Selbsthass oder einfach von Scham in Mendelssohns eigenartigen Überlegungen entdecken; deutet man sie ideologisch, so zeigt sich, ähnlich wie in den ersten Jahren des Staates Israel: Die alte Sprache repräsentierte für ihn die Vergangenheit, die überwunden werden musste, da sie vermeintlich das genaue Gegenteil jener Kultur war, an der man von nun an teilnehmen wollte.

Der Förderung des Gebrauchs der reinen deutschen Mundart sollte Mendelssohns Pentateuch-Übersetzung dienen. Er ließ sie in der Hoffnung drucken, dass sie in den Schulen eingeführt würde und solcherart das Jiddische verdrängte. Da ein mit deutschen Buchstaben gedrucktes Buch damals in keine jüdische Schule Eingang gefunden hätte, gab er den deutschen Text in hebräischen Buchstaben wieder.

Der Widerstand vieler gelehrter Zeitgenossen gegen Mendelssohns Bibelübersetzung war nicht zuletzt deswegen so weitreichend, weil für viele die Öffnung zum Deutschen hin gleichbedeutend war mit dem ersten Schritt zur Auflösung, Aufgabe der traditionellen Werte, für deren Erhaltung man bislang Verfolgung und Ausschließung erduldet hatte.

Viele Juden übernahmen Mendelssohns abfälliges Urteil über das Jiddische. Sie wurden blind gegenüber der Schönheit ihrer Muttersprache und merkten nicht einmal, wie weit sie sich seit der Renaissance verändert und entwickelt hatte. Nicht wenige kehrten gleichzeitig mit der jiddischen Sprache auch allen jüdischen Werten den Rücken.

Für Juden als Individuen bedeutete der Eintritt in die europäische Kultur, dass sie Hebräisch und Jiddisch aufgeben mussten. Der Ersatz des Hebräischen durch andere Sprachen und des Jiddischen durch die "reine" Sprache des Landes wurde eine der Hauptparolen der jüdischen wie der nichtjüdischen Aufklärer.


zurück vor auf uhomann@UrsulaHomann.de Impressum Inhaltsverzeichnis