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Viele Juden waren Expressionisten

Besonders hoch war der Anteil von Juden an dieser Bewegung. Dabei waren sich über das Ziel die nichtjüdischen wie die jüdischen Expressionisten einig. Es sollte nach der radikalen Umkehr eine humanistische Gemeinschaft des Geistes etabliert werden, in der mit der allgemein menschlichen auch die "jüdische Frage" gelöst werden sollte. Eine Frage, die im Grunde vor allem Nichtjuden beschwert hat, seltener Juden selbst.

- Diesem Trugschluss, man könne mit der Errichtung einer idealen Gesellschaft alle Fragen lösen, waren 1945 auch kommunistische Juden erlegen, die nach dem Zusammenbruch des Nazis-Regimes in die DDR gegangen war, um bei der Verwirklichung von Kommunismus und Sozialismus mitzuhelfen, und von denen schon viele 1953 mit dem Aufkommen eines neuen alten Antisemitismus, ausgelöst durch die Slánsky-Prozesse in der damaligen Tschechoslowakei, eines Besseren oder vielmehr Schlechteren belehrt wurden. -

Die "Explosion des jüdischen Talents" verdankte sich, laut Walter Benjamin, der Idee, die Gesellschaft in Richtung auf mehr Humanität und Geist umzukrempeln. Auf allen Ebenen des literarischen und kulturellen Lebens traten Juden für die expressionistische Utopie ein. Annähernd die Hälfte der expressionistischen Autoren entstammten dem Judentum. Sie gaben wichtige Anthologien und Zeitschriften heraus: Kurt Hiller "Der Kondor" (1912) und Kurt Pinthus "Menschheitsdämmerung" (1919). Der bedeutendste expressionistische Verleger (u.a.von Kafka, Werfel, Kraus, Hasenclever) war Kurt Wolff, der mit seiner Buchreihe "Der jüngste Tag" einen repräsentativen Querschnitt durch die neue Dichtung vorlegte.

Aufbruch- und Revolutionsstimmung, ekstatisches Verbrüderungs- und O-Mensch-Pathos (Werfel: "Der Weltfreund"1911) bestimmten das Bild des frühen Expressionismus. Zugleich wurden in der Großstadtlyrik, mit der zwei neue Sujets eingeführt worden war, Entfremdung und Heimatlosigkeit zu den eigentlichen Themen. Dabei konnte sich jüdische Existenz als Paradigma oder Modell der Gesamtbefindlichkeit des modernen intellektuellen Menschen verstehen. Das hat auch Marcel Reich-Ranicki immer wieder herausgestellt, vor allem in seinem Büchlein "Über Ruhestörer", dass Juden Unbehaustheit und Heimatlosigkeit des modernen Menschen vorweggenommen haben durch ihr Dasein in der Diaspora. Das Gefühl, fremd und unwillkommen zu sein, kein Boden unter den Füßen zu haben, nirgendwohin zu gehören ist für viele unseres und des vergangenen Jahrhunderts, insbesondere für Flüchtlinge und Vertriebene, zur elementaren Erfahrung geworden, eine Erfahrung, die Intellektuelle mit seismografischem Gespür vorweggenommen haben.


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