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Kämpferin für Frieden und Sicherheit

Die Palästinenserin Sumaya Farhat- Naser

Eigentlich hatte ich sie ganz aus dem Gedächtnis verloren: die palästinensische Friedensaktivistin und promovierte Biologin, Frau Professor Sumaya Farhat-Naser. Doch als ich sie jüngst in der Kultursendung "Titel, Thesen, Temperamente" sah, fielen mir sofort meine Begegnungen mit ihr ein und ihre vielfältigen Bemühungen um einen Dialog zwischen Palästinensern und Israelis, weil sie felsenfest davon überzeugt ist, dass eines Tages allen Widrigkeiten zum Trotz der "gerechte Frieden" kommen wird. Im Ausland gilt sie als wichtige Stimme ihres Volkes. Als Botschafterin der palästinensischen Sache ist sie längst zu einem Begriff geworden.

Zum ersten Mal traf ich sie im September 1990 in der Evangelischen Akademie Mülheim/Ruhr bei einem Seminar zum Thema "Ein Land-Zwei Völker", bei dem es hoch herging und bei dem schon all jene Probleme zur Sprache kamen, die uns heute, in verschärfter Form, beschäftigen und bewegen. Frau Naser war mit ihrer israelischen Freundin Rahel Freudenthal-Liviné gekommen. Beide setzten sich damals schon seit einigen Jahren, zusammen mit anderen Palästinenserinnen und Israelinnen, für den Frieden im Nahen Osten ein. Hier ein Ausschnitt aus dem Tagungsbericht, den ich damals für die Zeitschrift "Tribüne" verfasste(er erschien im Heft 116/1990): "Besonders aufschlussreich und mitunter geradezu bewegend waren die sehr persönlich gehaltenen Berichte der Palästinenserin Sumaya Farhat Naser und der Israelin Rahel Freudenthal-Liviné. Beide in den vierziger Jahren geboren, wuchsen in Israel unter gegensätzlichen Bedingungen auf und verstanden erst allmählich mit dem Älterwerden die Probleme der beiden Völker. Heute (also 1990) engagieren sich beide Frauen für den Frieden und arbeiten freundschaftlich miteinander an gemeinsamen Projekten. Sumaya Farhat-Naser erzählte, was es für sie bedeutet habe, als Palästinenserin im israelischen Staat groß geworden zu sein, in einem Staat, durch den immerhin eine Drittelmillion Palästinenser obdach- und heimatlos geworden sei und der vielen palästinensischen Menschen das Leben gekostet habe. Noch immer würden ihnen, klagte die Palästinenserin, elementare Menschenrechte vorenthalten. Die israelische Regierung behandele sie wie Menschen zweiter Klasse. Allerdings sei die neue Generation nicht mehr bereit, Unterdrückung und Rechtlosigkeit als notwendige Übel hinzunehmen. Sie selbst sehe keine andere Lösung, als sich gegenseitig anzuerkennen. Vor allem aber müsse man den Frieden ernstlich wollen und jegliche Gewalt ablehnen. Die in einem Kibbuz aufgewachsene Rahel Freudenthal-Liviné bekannte, dass sie wie viele Israelis ihren eigenen Staat bewundert, sich als stolze Israelin gefühlt und den Widerspruch zwischen Zionismus und Demokratie zunächst gar nicht bemerkt habe. Palästinenser seien für sie lange Zeit eine nicht vorhandene Größe gewesen. Langsam erst habe sie begriffen, welchen Zwängen die Palästinenser ausgesetzt seien und welche Frustrationen und Ohnmachtsgefühle sie zum Aufstand gegen Israel veranlasst hätten. Mittlerweile wisse sie, wie wichtig es sei, Opposition gegenüber der eigenen Regierung zu üben, Widerstand zu leisten und brauchbare Alternativen zu entwickeln, denn an der Okkupation, durch die Menschenrechte und alle demokratischen Werte unterdrückt würden, ginge die israelische Gesellschaft mit der Zeit unweigerlich zugrunde. Man komme nicht umhin, auf die besetzten Gebiete zu verzichten und die PLO als Gesprächspartner zu akzeptieren.

Einem nichtjüdischen Deutschen jedoch, der sich der Verstrickungen seines Volkes unter Hitler bewusst ist, fällt es nicht leicht, Israel zum jetzigen Zeitpunkt gerecht zu beurteilen. Kritisiert er den israelischen Staat, gerät er leicht in Verdacht, antisemitische Klischees zu wiederholen. Unterschlägt er dagegen die Schattenseiten der israelischen Realität und schweigt zu den von einzelnen israelischen Soldaten verübten, von der Armee allerdings untersagten Brutalitäten, setzt er sich dem Vorwurf aus, er habe aus Auschwitz nichts gelernt."

So weit der Auszug aus meinem damaligen Tagungsbericht.

Ein Jahr später im November 1991 - ein Jahr nach dem Zusammenschluss der beiden deutschen Staaten - bin ich Frau Naser abermals begegnet, diesmal in ihrer Heimat, in Westjordanland, also in einem von Israelis besetzten Gebiet. Da mich die Bundeszentrale für Politische Bildung ein Jahr nach dem Zusammenschluss der beiden deutschen Staaten zu einer Informationsreise nach Israel eingeladen hatte, bekam ich, zusammen mit meiner Gruppe - sie bestand hauptsächlich aus Journalisten und schreibenden Leuten aus Ost und West -, viele Vorträge und Standpunkte aus unterschiedlichen Perspektiven zu hören. Wir sprachen mit Siedlern, russischen Aussiedlern, mit jungen und alten Israelis und ehemaligen deutschen Juden, die unter Hitler im damaligen Palästina Zuflucht gesucht hatten. Wir waren in einem Kibbuz und kamen auch nach Ramallah und in die nahe gelegene Universität Birseit. Hier an ihrer Wirkungsstätte, erwartete uns, zu meiner großen Freude und Überraschung, Sumaya Farhat-Naser und einige palästinensische Persönlichkeiten.

Zu Mittag waren wir bei ihr und ihrer Familie zu Gast. Es war ein herrlicher Tag, die Sonne schien, und wir haben uns auf der großräumigen Veranda das leckere Mittagsmahl munden lassen und dabei weiter eifrig diskutiert, natürlich über die schwierige Situation in Israel und in den besetzten Gebieten, aus palästinensischer Sicht.

Ich schrieb über unsere Reise, wieder für "Tribüne" einen Bericht unter dem Titel:"An Israel scheiden sich die Geister. Sicherheit für die einen, Gerechtigkeit für die anderen." Hier der Auszug, der Frau Farhat-Naser betrifft:

"Wie das Vorgehen der israelischen Soldaten in den besetzten Gebieten konkret erfahren wird, wird uns während eines Studientages in der West Bank oder, wie es in der israelischen Version heißt, in Judäa und Samaria, anschaulich und nachdrücklich, mit viel rhetorischem und gestischem Aufwand und manchmal auch sehr emotional, vor Augen geführt. Gabi Baramki, Vizepräsident der Universität Birseit bei Ramallah, Sami Musha'sha, Vertreter der Menschenrechtsorganisation Al Hag (Gerechtigkeit), Albert Aghazerian, Leiter des palästinensischen Presse-Zentrums in Madrid, und Frau Sumaya Farhat-Naser, Wissenschaftlerin und Friedenskämpferin, klagen über schleichende Enteignung der palästinensischen Gebiete durch israelische Siedler, über Missstände in den Gefängnissen und werfen den Israelis vor, sie würden den Palästinensern fundamentale Menschenrechte vorenthalten, wie etwa das Recht auf Bildung. Manches Kind habe die Gewalt der Soldaten und Siedler schon am eigenen Leibe erfahren. Bedrückt fahren wir nach Jerusalem zurück, vorbei an armseligen, mit Stacheldraht umzäunten Flüchtlingslagern, in denen Menschen hausen, die vor mehr als vierzig Jahren ihre Dörfer verlassen mussten" und fragen uns, ob die hohen moralischen Ansprüche, die einige Israelis während unserer Reise immer wieder für ihren Staat geltend gemacht hatten, wohl auch für ihr Verhalten gegenüber Arabern und Palästinensern gelten?

Zu einer kurzen Begegnung mit Frau Farhat-Naser kam es einige Zeit später abermals in einer Akademie, diesmal war der Tagungsort (wenn ich mich recht erinnere) Arnoldshain). Frau Naser wirkte etwas gehetzt, lieferte ihren Vortrag ab und verschwand bald wieder, wahrscheinlich hatte sie noch eine Reihe anderer Verpflichtungen zu absolvieren.

Sechs Jahre nach meiner Israelreise im Jahr 1997 sah ich sie wieder in Dortmund in der Petrikirche, wo Frau Naser für ihr Buch "Thymian und Steine. Eine palästinensische

Lebensgeschichte" der Buchpreis der Evangelischen Büchereien feierlich überreicht wurde. Inzwischen ist auch ihr zweites Buch erschienen unter dem Titel: "Verwurzelt im Land der Olivenbäume. Eine Palästinenserin im Streit für den Frieden". Von diesen beiden Büchern, die die Lebensgeschichte und das Engagement der Palästinenserin Sumaya Farhat-Naser eindrucksvoll spiegeln, soll nun die Rede sein.

In "Thymian und Steine" erzählt die Autorin, wie sie sich als Palästinenserin, die so alt ist wie der Staat Israel selbst, nach und nach von einengenden Traditionen befreit hat und ihren eigenen Weg als Palästinenserin gegangen ist. Schon früh setzte sie sich zur Wehr gegen Fremdbestimmung und suchte ihre Identität als Palästinenserin und Frau zu finden und zu wahren. Aufgewachsen ist sie in Birseit (wörtlich:Ölbrunnen) in einer Großfamilie, die von agrarisch-patriarchalischen Traditionen und christlicher Lebensweise geprägt war. Die Eltern hatten ihre eigene Kindheit zur Zeit des britischen Mandats in Palästina erlebt. Die Mutter, Tochter einer einfachen Bauernfamilie, war Analphabetin (die allgemeine Schulpflicht begann erst 1954) und wurde mit siebzehn Jahren verheiratet. Ein palästinensisches Frauenleben erschöpfte sich damals, wie in vielen anderen orientalischen Kulturen auch, mit Ehe und Kindergebären.

Aber hören wir, was Sumaya Farhat-Naser schreibt: "Ich lebe auf dem Boden Palästinas, in den seit 1967 besetzten Gebieten. Mein Leben wird von Militärgesetzen kontrolliert und bestimmt. Weder politische noch zivile Rechte, weder Selbstbestimmung noch Existenzrecht werden mir und meinem Volk eingeräumt. Mein Bewegungsraum reicht, ohne Genehmigung des Geheimdienstes, fünfzehn Kilometer im Umkreis meines Heimatortes Birseit."

Durch ihre Tante kam sie in das von deutschen Diakonissen geleitete Internat von Talitha Kumi in Jerusalem. (Die Schule war vom Kaiserswerther Diakoniewerk im 18.Jahrhundert in Jerusalem gegründet worden.) Nach dem Abitur studierte Sumaya in Hamburg Biologie, Geographie und Erziehungswissenschaft und begegnete dort immer wieder Menschen, für die Juden und Israelis die Guten und die Palästinenser die Bösen waren, so dass sie oft ein Gefühl des Augestoßenseins überfiel, zumal sie als Palästinenserin kaum Gehör fand. Nach dem Studium kehrte Sumaya Farhat-Naser in ihre Heimat zurück und heiratete Munîr, der sein Studium in Amsterdam beendet hatte und sofort am Birseit-College einen Lehrauftrag als Dozent für Biochemie erhielt. Bald darauf wurden die beiden Kinder Anîs und Gha geboren. Mit ihrer Familie wohnte Sumaya weiterhin in Westjordanland, als Christin in muslimischer Umgebung, mit gelegentlichen Unterbrechungen durch Vortragsreisen, die sie in erster Linie nach Deutschland, Österreich und in die Schweiz führten.

1979 zog sie mit ihrem Mann nochmals nach Hamburg, um dort gemeinsam zu promovieren. 1982 nahmen beide ihre Lehrtätigkeiten an der Universität in Birseit unter schwierigen Bedingungen auf. Bald darauf kam das dritte Kind, ein Mädchen, auf die Welt. Sumaya Farhat-Naser lässt uns in ihrem Buch"Thymian und Steine" am palästinensischen Alltag im Westjordanland vor und nach der Besetzung von 1967 hautnah teilnehmen - an einem anhaltenden Zustand der Entrechtung und der Demütigung in einem Land, das ursprünglich die Heimat der Palästinenser war und dann "von Fremden an Fremde versprochen" worden war.

Man erfährt, was Palästinensern von Anfang an alles zugemutet wurde und immer noch wird und wie ihnen durch viele unnütze Verordnungen das Dasein schwer gemacht und Lebensperspektiven genommen werden. Was die Palästinenser besonders traf und auch Frau Naser und ihre Familie, waren tägliche Schikanen, fehlender Respekt sowie Häusersprengungen unter dem Vorwand, diese seien illegal errichtet worden. "Nie hat eine solche Maßnahme jedoch einen Israeli betroffen", schreibt die Autorin.

Die Autorin berichtet auch von dem Ausbruch der Intifada im Jahr 1987, dem Aufstand der Palästinenser, durch die das Palästinenser-Problem aus der Vergessenheit geholt und in der Weltpolitik zu einem wichtigen Thema geworden sei. Sie selbst hat (das las ich indessen nicht in ihrem Buch, sondern in einer Zeitungsreportage), jenseits der Legalität, mit dafür gesorgt, dass 3200 Intifada-Opfer ihres Volkes in einem katholischen Kloster mit Hilfe israelischer Ärzte und Schwestern gepflegt wurden. Bei der zunehmenden Härte der Konflikte wurde ihre Familie ebenfalls betroffen. Ihr eigener Sohn wurde angeschossen, verhaftet und gequält.

Im Oktober 1993 klang die Intifada mit der Aufnahme der Friedensverhandlungen im Oktober 1993 allmählich ab.

Schon gleich nach ihrer Rückkehr aus Deutschland hatte Farhat-Naser begonnen, in Frauenorganisationen mit zu arbeiten und sich für Bildung und Erziehung, die in ihren Augen "der eigentliche Kern der Friedensarbeit" bilden, einzusetzen

Doch erst viele Jahre nach Nasers Rückkehr war der Leidensdruck für sie und andere Frauen so groß geworden, dass sie zu einem israelisch-palästinensischen Gespräch zusammen kamen, "um über unsere Realität zu sprechen". Allerdings fanden die ersten informellen Treffen einige Jahre lange in Verstecken statt.

1986 wurde Frau Naser als erste Palästinenserin vom deutschen Fernsehen nach Berlin eingeladen, um öffentlich mit israelischen Frauen über einen israelisch-palästinensischen Frieden zu diskutieren. Es war das erste Mal, dass sich Palästinenser und Israelis zu einem öffentlichen Gespräch zusammenfanden. 1988 kam dann auch in Israel ein erstes Treffen von Palästinenserinnen mit Israelinnen zustande. 1989 und 1992 traf man sich in Brüssel zu einer Tagung unter dem Titel "Give Peace a Chance", auf dem die Friedensfrauen ihre Ideen präsentierten. Fortan arbeitete man zusammen an einem Gemeinschaftswerk für den Frieden. Man bemühte sich um den Abbau von Fehlinformation und Ideologien, die Angst und Misstrauen schüren und die Völker in der Trennung verharren lassen. Natürlich verlief man sich hin und wieder in Sackgassen oder erörterte brisante Fragen, wie etwa die, wie gehen wir mit der Asymmetrie zwischen Israelinnen und Palästinenserinnen um? Wie können wir eine Partnerschaft von Gleichberechtigten bilden? Die anhaltende Besatzungssituation führte regelmäßig dazu, dass man einander Verletzungen zufügte. Durch unterschiedliche Wahrnehmungen und Sichtweisen kam es immer wieder zu Streitigkeiten und Versöhnungen.

Sumaya Farhat-Naser berichtet darüber ausführlich in ihrem Lebensbericht, auch darüber, dass es eine ganze Weile gedauert habe, bis auf beiden Seiten Hass, Vorurteile und Misstrauen überwunden waren, bis plötzlich eine Israelin sagte: "Sumaya, ihr seid ja ganz normal! Ich könnt logisch denken! Ihr seid wunderbar! Seit wann gibt es euch? Gibt es noch mehr Frauen wie ihr?" Von da an traf man sich regelmäßig.

Tatsächlich sind Israelis oft schockiert, wenn sie erfahren, in welch verschiedenen Welten Israelis und Palästinenser leben, obwohl ihre Orte und Wohnstätten oft nur wenige Kilometer voneinander entfernt sind. Indessen erfuhr Frau Naser auch, wie Solidarität und Zivilcourage der israelischen Partnerinnen ihnen Türen öffnen konnten, die der politischen Logik zufolge eigentlich fest verschlossen waren.

Gleichwohl mussten beide Seiten, trotz ihrer politischen Bildung und ihres Engagements, zuerst lernen, miteinander zu sprechen und Kränkungen zu ertragen.

Anfang der neunziger Jahre schuf Sumaya Farhat-Naser zusammen mit anderen Frauen, den "Jerusalem Link", eine "politische Stimme für den Frieden". Die Institution bestand aus dem "Jerusalem Center for Women" auf palästinensischer Seite, dessen Direktorin Farhat-Naser seit 1997 war, und der israelischen Sektion "Bat Schalom". Die

Frauen arbeiteten intensiv daran, den palästinensisch-israelischen Konflikt zu beenden.

Frau Naser organisierte zum Beispiel Gesprächsforen für Frauen und entwickelte ein eigenes Trainingsprogramm zum Dialog und zur "Entfeindung". So lernten die Frauen aus Israel und Palästina, ihre Gefühle zu artikulieren, Verletzungen, Demütigungen und Ängste auszusprechen, Vorurteile und Feindbilder abzubauen.

Frau Nasers Lebensweg, gekennzeichnet von Erfolgen und herben Rückschlägen und Niederlagen, war und ist heute erst recht erfüllt vom Kampf gegen Armut und Unterdrückung, gegen Entfremdung und Resignation.

Ihr Buch "Thymian und Steine" wurde zu einer Zeit geplant, als die Hoffnung auf einen Prozess friedlicher Veränderung und allmählicher Annäherung die Skepsis überwog. Allerdings wird in den beiden letzten Kapiteln des ersten Buches schon spürbar, wie sehr sich die Stimmung inzwischen verändert hat. Das zweite Buch "Verwurzelt im Land der Olivenbäume" entstand dagegen im Zeichen eskalierender Gewalt und wachsender Perspektivlosigkeit. Es handelt von den erdrückenden palästinensischen Erfahrungen der letzten Jahre seit dem Osloer Abkommen zwischen der palästinensischen Führung und der israelischen Regierung und vermittelt einen Einblick in die politischen und sozialen Strukturen der palästinensischen Gesellschaft sowie in die Probleme ihrer Führung. Frau Naser schreibt auch von den Siedlern, die sich immer mehr ausbreiten und die mit ihrer Politik die palästinensische Gesellschaft und ihre Grundlagen zerstören, Menschen erniedrigen und entrechten.

Ausführlich werden hier ferner anspruchsvolle Dialoge aus der Friedensarbeit der Frauen dokumentiert, wobei die Autorin keinen Hehl daraus macht, wie schwierig es ist trotz guten Willens weiterhin für Frieden und Gerechtigkeit einzustehen und Netze zu knüpfen, auf die eine politische und soziale Veränderung dereinst angewiesen sein wird. Wer einen Dialog für den Frieden mit der "anderen Seite " sucht, muss bereit sein, eigene Deutungsmuster und das eigene Verständnis der Geschichte zu hinterfragen. Dies haben palästinensische und israelische Frauen entgegen aller Widerstände, auch derjenigen in den eigenen Köpfen, versucht: Sumaya Farhat-Naser zeigt in ihren Erfahrungsberichten und Konfliktgesprächen mit den israelischen Friedensfrauen Daphna Golan, Gila Sviosky und Terry Greenblatt, welche schöpferische Kraft darin liegt, die eigene, authentische Erfahrung und ihren Kontext in Frage zu stellen. Im Laufe der Zeit und der Zusammenarbeit mit anderen Frauen schloss Frau Naser zahlreiche Freundschaften mit Juden und Jüdinnen. Gemeinsam lernte man, dass man es sich auf keinen Fall leisten könne, der Verbitterung und dem Hass Raum zu geben, wenn man irgendwann in Frieden miteinander leben wolle.

Sumaya Farhat-Naser beschreibt außerdem aus ihrer Perspektive ein asymmetrisches Verhältnis, das Verhältnis zwischen israelischer Militärbesatzung und dem besetzten palästinensischen Volk.

Mit ihren Büchern ist der Autorin ein einzigartiges Bild der alltäglichen Mühen um Frieden und Gerechtigkeit gelungen. Leider sind die Stimmen der Friedensfrauen in Palästina und Israel in den Verhandlungen um den Frieden im Nahen Osten kaum beachtet worden und werden auch in den Medien nur selten erwähnt.

Frau Farhat-Nasers friedenspolitische Arbeit wurde inzwischen mehrfach gewürdigt. So erhielt sie 1989 von der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Münster die Ehrendoktorwürde, 1995 den Bruno-Kreisky-Preis für ihre Verdienste um die Menschenrechte, 1997 den Versöhnungspreis "Mount Zion Award" in Jerusalem und im Herbst 2000 den "Augsburger Preis zum Hohen Friedensfest". Evangelische und katholische Christen erinnern sich bei dieser Gelegenheit an das Ende des 30-jährigen Krieges im Jahr 1648 und des konfessionellen Friedens in der Stadt Augsburg. Beide Konfessionen sind auch bei der Vergabe dieses Preises beteiligt. Die Auszeichnung für Frau Naser sei, wie es in der Begründung hieß, "Anerkennung, Ermutigung und Bestärkung eines vorbildlichen Friedensengagements."

Sumaya Farhat-Naser schrieb ihre Bücher in deutsch und hat sich dadurch den Zugang zu Kreisen geöffnet, "die nie daran gedacht hätten, eine Palästinenserin einzuladen - etwa jüdische Organisationen."

Nach meiner Israelreise habe ich Frau Naser hin und wieder im Rundfunk und Fernsehen gehört und gesehen, wenn sie als unpolemische Zeugin, engagierte Frauenvertreterin und Friedenskämpferin politische Entwicklungen kommentierte. Gelegentlich las ich auch von ihrem Auftreten auf Kirchentagen.

Zuletzt wurde ich, wie schon erwähnt, durch die Kultursendung "Titel, Thesen, Temperamente" am 14.April 2002 wieder an Frau Naser erinnert. Sumaya Farhat-Naser berichtete in dieser Sendung über die kürzlichen Zerstörungen in ihrem Dorf Birseit, auch ihr Haus sei mittlerweile davon betroffen worden. Natürlich erzählte sie auch diesmal wieder von ihrem langjährigen gemeinsamen Engagement mit israelischen Frauen, das jetzt fast zum Erliegen gekommen sei. Viele seien entmutigt worden, etwa 600 hätten für die Friedensarbeit gearbeitet, besser wäre es gewesen, so Frau Naser, wenn sie noch mehr Menschen dafür hätten gewinnen können, nicht Hunderte, sondern Tausende. Ein Grund für die augenblickliche verzweifelte Lage im Nahen Osten sei auch, hob sie erneut hervor, dass man sich gegenseitig kaum kenne. Im israelischen Fernsehen würden immer nur die Selbstmordattentäter vorgeführt, kaum ein Israeli wüsste, dass auch die Palästinenser eine reiche Kultur und Vergangenheit hätten, umgekehrt sähe man im palästinensischen Fernsehen stets nur bis an die Zähne bewaffnete Soldaten. Aber über israelische oder jüdische Riten und Gebräuche, über das Innere einer Synagoge erführe man durch das Fernsehen nichts. Auf beiden Seiten würden immer nur Feindbilder aufgebaut und auf diese Weise der Hass geschürt und verstärkt. Eine verzerrte Sicht "des Feindes" und seiner Absichten verhinderten indessen nachhaltig ein nachbarschaftliches Zusammenleben beider Völker. Diese Feindbilder blockierten nicht nur Friedensverhandlungen, sondern erschwerten auch die alltägliche Annäherung und das gegenseitige Verständnis. Nur wenige hätten die Logik der Konfliktparteien bisher zu durchbrechen gewagt.

Bedauerlicherweise ist das langjährige gemeinsame Engagement von palästinensischen und israelischen Frauen, nach den jüngsten blutigen Auseinandersetzungen und Zwischenfällen, im Frühling 2002 fast zum Erliegen gekommen. Viele von Farhat-Nasers Mitstreiterinnen und Mitstreitern sind entmutigt worden und haben sich zurückgezogen, weil sie dem Frieden keine Chance mehr geben. Das Scheitern des politischen Friedensprozesses zwischen beiden Regierungen hat die gesamte Friedensarbeit gestoppt. Seit dem Beginn des Aufstandes im September 2000, der zweiten Intifada, sind die Kontakte zwischen den Friedensfrauen abgebrochen. Als das zweite Buch vor der Drucklegung stand, wenige Tage vor dem Jahresende 2001, war die Situation, fast hoffnungslos. Der Traum vom Frieden und von einem eigenen Staat ist in weite Ferne gerückt. Stattdessen dreht sich die Spirale der Gewalt unerbittlich weiter. Auch Frau Naser gab im Juni 2001 ihre Arbeit in der Leitung des "Jerusalem Center for Women" auf, aber nicht so sehr weil sie resignierte, sondern um in ihren Aktionsmöglichkeiten nicht mehr von der Laune und den Eigeninteressen der Vorstandsfrauen abhängig zu sein. Zusammen mit Gila Svirsky veröffentlichte sie die Erklärung "Wir weigern uns, Feindinnen zu sein". "Hinge es von uns ab", hieß es in dieser Erklärung, "hätten wir schon lange eine Friedensvereinbarung, die die schwierigen Probleme zwischen unseren beiden Staaten regelte."

Sumaya Farhat-Naser indessen fühlt sich gezwungen, weiterzuschreiben und zu kämpfen, "trotz der Last der politischen Ereignisse". Unermüdlich vertritt sie daher nach wie vor den Standpunkt, dass beide Völker um Nahen Osten "ein Recht auf Frieden, Existenz und einen Staat" haben. "Uns muss das Wohlergehen beider Völker wichtig sein", betont Farhat-Naser. Das eben mache ihre Friedensarbeit aus: Über die Brutalität der israelischen Besetzung zu schreiben, aber auch über die Versuche von Israelis und Palästinensern, für den Frieden zu arbeiten. Da, wo die große Politik trennt, sucht sie Gemeinsamkeiten - im täglichen Miteinander. "Verträge genügen nicht", sagte sie 1997. "Friedensarbeit kann nur an der Basis stattfinden."Gerade den Frauen, den palästinensischen wie den israelischen, käme die Aufgabe zu, dort Verbindungen zu knüpfen, wo der Friedensprozess ins Stocken geraten sei. Das sei nicht nur ein gesellschaftspolitischer Aspekt, der die Stellung der Frau in der Gesellschaft beträfe. Für Frauen sei es schlichtweg einfacher, in diesen Zeiten mehr zu wagen - auch zum Wohle der Männer." Denn "Männer sind mehr eingebunden in Strukturen, in Politik, mehr von Strafe bedroht. Uns nimmt man nicht so ernst." Genau das sei ihre Herausforderung - " das Noch- Nicht -Gelöste sehen zu wollen." - "Der Friede darf nicht erzwungen werden, sondern er muss aus der Einsicht erwachsen, dass er eine Eins-zu-Eins-Gleichung ist, zum Wohle beider Seiten", wiederholte sie noch im Jahr 2000.

Sumaya Farhat-Naser weiß, dass die eine Seite nicht ohne die andere überleben kann. "Friede und Sicherheit haben nur dann eine Chance, wenn sie für beide Völker gelten", und: "Wir können uns den Luxus der Hoffnungslosigkeit nicht leisten."

Noch immer steht ihr Name für eine fragile Friedenshoffnung. Unglücklicherweise verhinderten die Regeln der Besatzung, bedauert Frau Naser zutiefst, dass die Menschen beider Völker, dass Israelis und Palästinenser, sich näher kennen lernen. Die Palästinenser kennen die Israelis "praktisch nur als Soldaten. Als normale Menschen, die einkaufen oder spazieren gehen, begegneten sie uns nicht. Nie hatte ich israelische Menschen beim Beten, Weinen oder Lachen gesehen, nie Jugendliche, wie sie tanzten und sich austobten. Wir leben - und leben bis heute - in getrennten Welten."

Während im israelischen Fernsehen immer nur die Selbstmordattentäter vorgeführt würden - kaum ein Israeli wüsste, dass auch die Palästinenser eine reiche Kultur und Vergangenheit hätten -, sähe man umgekehrt im palästinensischen Fernsehen stets nur bis an die Zähne bewaffnete Soldaten. Auf beiden Seiten würden immer nur Feindbilder aufgebaut, so dass auf diese Weise der Hass stets von neuem geschürt und verstärkt werde. Dabei habe jedes der beiden Völker seine eigene Wahrheit des Erlebten. "In den israelischen Geschichtsbüchern", schreibt sie in einem Beitrag für die "Neue Zürcher Zeitung" vom 17.April 2002, "war bis in die jüngste Vergangenheit nichts über die 418 zerstörten palästinensischen Dörfer und Ortschaften zu lesen, nichts von Todesopfern und Flüchtlingen. Diese Geschichte der Palästinenser wurde ausgeblendet und negiert. Die Palästinenser ihrerseits verschließen die Augen vor dem Wissen um die jüdische Geschichte außerhalb Palästinas, grenzen sich aus der historischen Tragödie aus, mit der sie nichts zu tun haben wollen. Das Wissen der Palästinenser über die israelische Geschichte beruht auf dem eigenen traumatischen Erleben, das die Nachbarn nur als Kolonisatoren und brutale Besatzungsmacht kennt. So prallen zwei unterschiedliche Geschichten zweier Opfervölker aufeinander - und am Ende geht es um dasselbe Land, dieselbe Forderung nach Existenzrecht und ein beiderseits schwer zu tragendes Leid." Friedensarbeit basiert darauf, dass man neben der eigenen Leidensgeschichte auch die Leiden der anderen gelten lässt. Frau Naser wurde zuerst in Deutschland mit der deutsch-jüdischen Geschichte konfrontiert und erkannte damals erst, dass beide, Palästinenser und Israelis, für Unabhängigkeit und Freiheit kämpfen, für ein eigenes Land und Sicherheit.

Sumaya Farhat-Naser schildert ihren ersten Besuch in Yad Vashem, für den zunächst viele Hindernisse und psychische Barrieren überwunden werden mussten. Sie sei sehr beeindruckt gewesen von der kunstvollen Darstellung der Geschichte und der von Ehrfurcht und Würde geprägten Atmosphäre. Sie habe sich mit dem Leiden der Menschen identifiziert. "Den anderen erging es ähnlich. Ungläubigkeit über das Ausmaß der Verbrechen war ihnen anzusehen. Doch an einer Stelle gab es einen Bruch. In einem Ausstellungsraum geht der Holocaust abrupt in die Staatsgründung Israels über. Auf einem Bild ist der Mufti von Jerusalem zusammen mit Hitler zu sehen, dann gibt es Dokumente vom 1948er Krieg und schließlich Abbildungen von der Begeisterung über die Eroberung und den Aufbau des Staates Israel. Unsere Geschichte ist vollständig ausgeblendet, unsere Existenz negiert. Ein komplettes Verschwinden unseres Leidens, eine Verfälschung der Geschichte, das Leugnen des Unrechts und unserer Realität, dachte ich. Kein Wunder, dass wir für die Israelis als Volk, als Menschen und als politische Dimension unsichtbar bleiben. Ich war tief gekränkt und fragte mich: Wie können wir Frieden aufbauen, wenn diese Lücke bleibt?

Wie könnte man Palästinenserinnen und Palästinenser dorthin führen und erwarten, dass sie mit Erschütterung reagieren, wenn sie und ihre Geschichte inexistent sind?" Frau Naser fragt sich das zu Recht und macht hier auch europäische und insbesondere deutsche Leser darauf aufmerksam, dass sie in Yad Vashem eine für sie schmerzhafte Lücke entdeckt hat, die bisher wohl nur wenigen Besuchern aufgefallen sein dürfte.

Vielleicht sollten Farhat-Nasers Bücher Pflichtlektüre in allen israelischen und palästinensischen Schule werden, damit der jungen Generation nicht weiterhin Hass auf ihre jeweiligen Nachbarn eingetrichtert wird, sondern damit sie endlich lernt, diese besser zu verstehen und als Menschen zu achten, gerade weil Farhat-Nasers Bücher, bei all ihrem Engagement für die Rechte des palästinensischen Volkes und für das Selbstbestimmungsrecht der Frauen, alles andere als politische Pamphlete sind. Gerade mit ihrer recht kühlen, sachlichen Sprache und ihrem unbestechlichen Blick, den sie auch in der politischen Auseinandersetzung behält, gelingt es der Autorin, eine differenzierte, für viele Leser sicherlich neue Sicht auf die Situation im Nahen Osten zu eröffnen. Gleichwohl sind manche Ereignisse und Vorkommnisse unter der israelischen Besatzung, die Frau Naser schildert, schlichtweg empörend und menschenverachtend. Dabei ist sie keineswegs blind für die Fehler und Brutalitäten, die von Palästinensern begangen werden, und glaubt, dass "Kollaborateure, von denen es einige tausend gibt,..noch heute bei der Aufrechterhaltung der Besatzung eine wichtige Rolle" spielen.

Frau Nasers Engagement ist bewundernswert. Man kann nur hoffen, dass ihre Stimme und die ihrer palästinensischen und israelischen Mitstreiter und Mitstreiterinnen bald wieder mehr Gehör finden und dass es diesen Menschen, die sich auf friedlichem Wege für den Frieden und ein gemeinsames gleichberechtigtes Miteinander einsetzen, sich erfolgreich durchsetzen gegenüber allen Hardlinern, Fundamentalisten und Fanatikern, damit das Blutvergießen auf beiden Seiten bald ein für allemal ein Ende hat. Denn was jetzt im Nahen Osten geschieht, ist tatsächlich eine humanitäre Katastrophe.

Literaturhinweis:

Sumaya Farhat-Naser:

Der Beitrag erschien in gekürzter Form in der Fachzeitschrift für

Literatur und Kunst "Der Literat" 44.Jahrgang Juli/August 7/8/2002


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