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Jiddische Autoren

Die jiddische Sprache brachte eine reiche Literatur hervor, die in der zweiten Hälfte des 19.Jahrhunderts eine wahre Blütezeit erlebte. Jüdische Schriftsteller überwanden die Verachtung, mit denen die osteuropäischen jüdischen Aufklärer - in der Tradition von Moses Mendelssohn - Jiddisch als Hindernis auf dem Weg zur Emanzipation gebrandmarkt hatten.

Zu den bekannten jiddischen Autoren gehören Mendele Mojcher Sforim(1835-917) - "Mendele, der Wanderbuchhändler" -, Jitzchak Leib Perez (1851-1915) und Scholem Alejchem (1859-1916), drei große jiddischen Poeten des ausgehenden neunzehnten Jahrhunderts mit schwermütig-heiteren Geschichten. Sie bildeten das Dreigestirn der jiddischen Literatur Osteuropas. Wenn Perez in einer seiner Geschichten das Ende des

Juden Bonzie Schweig schildert, eines Lastträgers im Schtetl, der irgendwann auf der Straße zusammenbricht, ist damit Leben und Sterben von Hunderttausend osteuropäischer Juden festgehalten.

Bonzie hatte keine Kraft mehr, den Kopf zu heben, selbst wenn er keine Lasten trug. Andere, die im gleichen Elend lebten, wollten es nicht schweigend ertragen. Gerade weil sie fromme Juden waren, machten sie Gott für diese Ungerechtigkeit verantwortlich und zogen in heiligem Zorn die Konsequenz. Ihnen hat Isaak Leib Perez ebenfalls ein Denkmal gesetzt und zwar in Gestalt des Berel, Schneider in Berditschew.

Perez und Alejchem werden als Begründer der jiddischen Literatur gelegentlich mit Schiller und Goethe verglichen.

Scholem Alejchem hieß eigentlich Scholem Rabinowitsch, aber er nannte sich: Scholem Alejchem, was so viel bedeutet wie Friede mit euch, und bezeichnete sich als "a humorißt, a schraiber". Er wurde 1859 in der Nähe von Kiew geboren und starb 1916 in New York. Mehr als hunderttausend Menschen sollen seinem Sarg gefolgt sein. Der unvergleichliche Humorist der jiddischen Literatur schrieb den bekannten Roman "Tewje der Milchiger"(1894), der in der Musical-Bearbeitung "The Fiddler on the Roof" ("Anatevka") seit 1964 über die Bühnen der Welt geht, wobei der Erfolg nicht zuletzt den Ohrwürmern des Komponisten Jerry Bock zuzuschreiben ist, mit denen jene schon zum Mythos stilisierte, bizarre Welt, die wir schon aus den frühen, noch in Russland entstandenen Bildern Mac Chagalls kennen, erweckt wird.

Kommt die Sprache aufs Jiddische und Schtetl, so hat man fast immer automatisch Figuren vor Augen wie "Tewje der Milchmann", der mit seinen Stoßseufzern die jüdische Existenz beklagt, die sich in einer feindlich gesinnten Umwelt behaupten muss. Der Schriftsteller Scholem Alejchem, dessen Erzählungen ein stark romantisierendes Bild des Schtetls zeichnen, verewigte hier den Typus des ostjüdischen Kleinbürgers, den es wahrscheinlich so oder ähnlich gegeben hat.

Beinahe alle Handlungen in Scholem Alejchems Erzählungen spielen im Schtetl und sind verankert in den Alltagserfahrungen der jüdischen Gemeinschaft. Einer der Protagonisten, ein Schankwirt disputiert mit Christen über Gott und wird deswegen zum Spießrutenlaufen verurteilt. Seine jüdischen Brüder arrangieren einen Scheintod und lassen ihn über die Grenze nach Galizien entkommen. Aber nun beginnt der Gerettete die Retter zu erpressen.

Die Erzählung ist beispielhaft für die Doppelperspektive Scholem Alejchems: die Unterdrücker berufen sich zu Unrecht auf den Himmel, aber auch die Unterdrückten sind keine Engel. Der Erzähler läßt sich den Blick für die Realität nicht trüben, er opfert ihn auch am Schluss nicht dem Gesetz erzählerischer Abrundung. Deshalb enden so viele Geschichten mit jener Offenheit, die auch Lebensprozessen eigentümlich ist.

Natürlich finden wir hier ebenfalls Grundmuster menschlicher Charaktere und zwischenmenschlicher Konflikte: den Geizhals oder den religiösen Heuchler, das Aufbegehren der jungen Verliebten gegen das Heiratsdiktat des Vaters und sein Mitgiftkalkül. Aber immer überwiegt das Atmosphärische jüdischen Zusammenlebens, jüdischer Überlieferungen und Riten. Allerdings macht Scholem Alejchem zugleich die Bruchstelle im Traditionszusammenhang des Schtetls kenntlich: wachsende Assimilationsbereitschaft der Juden und Abkehr von den orthodoxen Glaubens- und Verhaltensregeln. Andererseits registrieren die Erzählungen auch eine zunehmende öffentliche Unduldsamkeit gegenüber der Minderheit.

Nirgendwo aber zielt der Humor auf Verharmlosung, er kann sich mit Ironie, nötigenfalls mit Sarkasmus wappnen. Falsche Ansichten werden mit solcher Beharrlichkeit und mit so viel Nachdruck vertreten, dass sie in der Abnutzung sich selbst widerlegen. Unerschöpflich sind Scholem Alejchems erzählerisches Füllhorn und seine witzigen Verdrehungen biblischer Zitate.

Scholem Alejchems Texte sind von Anfang aufklärerisch. Sie beschreiben nicht einfach das Stetl, sondern kämpfen mit dem Mitteln der Satire gegen Missstände im Stetl, um die Leserschaft dazu zu bringen, sich nicht mit dem, was sie vorfinden abzufinden.

Was das Ostjudentum gewesen ist, ist besonders deutlich bei Alejchem zu erkennen, eine Gemeinschaft, zur Gänze auf sich und ihr Schicksal bezogen, abgeschottet nach außen. Das Ghetto war längst verinnerlicht. Die kaum überwindlichen Schranken gegen Assimilation und Integration hatten auch die seelische Sonderung gefördert und ein Sonderbewusstsein entstehen lassen, verstärkt noch durch die anhaltende Zurückweisung durch die nichtjüdische Umwelt. Aus diesem extremen Aufeinanderbezogensein, verbunden mit Armut, die stets dem Rückzug nach Innen Vorschub leistet und einer bereits in früher Kindheit beginnenden Schulung der Beredsamkeit. So hat sich eine Sprechkultur entwickelt, eine von Witz und Schlagfertigkeit geprägte Eloquenz, die maßgeblich den Stil der jiddischen Literatur ausgebildet hat.

Aber auch in den Geschichten anderer jiddischer Autoren findet man die gesamte Bandbreite jiddischen Lebens: Alltag, Kindheit, Tanz, Liebe und Hoffnung auf eine menschenwürdigere Welt. Sie sind Wegbegleiter einer europäischen Leidensgeschichte mit allen Nöten und Sorgen. Doch auch der Witz kommt nicht zu kurz, denn wie heißt es doch: "In traurigen Zeiten blüht der Witz" oder wie Freud einmal sagte: "Der Witz ist die letzte Waffe des Wehrlosen."

Der jiddische Lyriker Morris Rosenfeld (1862-1917) fragt daher zu Recht: "Ein jüdisch Lach ist denn das ein Lach?" Meistens erschöpft sich die Wirkung nicht im Wortwitz, sondern erzeugt ein dialektisches Spannungsverhältnis.

Ein Jude war bereit, sich taufen zu lassen, als man ihm aber die vielen Heiligen aufzählte, an die er glauben müsse, wehrte er ab: "Die Mischpoche ist mir zu groß!"

"Juden sind wie alle anderen Menschen auch, nur alles etwas mehr" - dieser Ausspruch wird Albert Einstein zugeschrieben.

Jiddisch ist nicht, wie man annehmen könnte, vor allem eine Sprache für Anekdoten und Witze. Jiddisch ist vielmehr eine hart geprüfte Sprache, gebrannt im Feuer, geschmiedet durch Zores (Sorgen). Da Juden keine Armee hatten, hat ihnen nur eine Waffe zur Verfügung gestanden, nämlich Lachen und Sichlustigmachen über den Stärkeren.

Das kürzeste jiddische Sprichwort heißt "nebbich". Bei Gott nicht (polnisch), Ja, fürwahr(böhmisch), bedrückt(hebräisch), nie bei Euch(deutsch), kurzum ein Ausruf des Mitleids und Erbarmens. Hier ein Dialog aus Singers "Die Familie Moschkat": "Was sind die Juden? - Ein Volk, das nicht schlafen kann und das die anderen nicht schlafen läßt. - Das kommt vielleicht daher, dass sie ein schlechtes Gewissen haben. - Die anderen haben überhaupt kein Gewissen."

"Wir Juden", wusste Singer, "leiden an vielen Krankheiten, aber Gedächtnisschwund gehört nicht dazu." Bei Singer wiederum wird vieles nur dann sichtbar, wenn man den Hintergrund mitliest wie Ausweg- und Hoffnungslosigkeit in den Figuren, die er vorführt. Das alles ist sind Erinnerungsmomente, die so schmerzen, dass man durchaus nachvollziehen kann, warum ein großer Teil dieser Literatur von manchem jungen Israeli nicht zur Kenntnis genommen wird.

Singer, dessen Bücher partiell autobiographische Züge haben und in denen vor allem religiös gebildete, aber ungläubige Juden vorkommen, legte sein schriftstellerisches Selbstverständnis mit folgenden Worten dar: "Die Literatur soll Ereignisse beschreiben, nicht Ideen analysieren, ihr Thema ist das Individuum, nicht die Masse, sie soll sich mit der Vergangenheit, nicht mit der Zukunft beschäftigen" und: "Die Literatur ist dann am besten, wenn sie auf einem alten Glauben beruht, auf zeitlosen Hoffnungen und Illusionen."

Singer bekannte ferner: "Ich bin in drei toten Sprachen aufgewachsen - Hebräisch, Aramäisch und Jiddisch(manche halten letzteres nicht einmal für eine Sprache) - und in einer Kultur, die sich in Altbabylon entwickelt hat, der des Talmuds. Obwohl meine Vorfahren sich vor sechs- bis siebenhundert Jahren in Polen niedergelassen hatten, kannte ich nur ein paar Worte der polnischen Sprache. - Mein Vater sagte:"Diese Welt ist nur ein Durchgang. Wenn der Mensch sündigt, verwandeln sich seine Sünden in Teufel, Dämonen, Kobolde und nach dem Tode jagen sie den Leichnam."

"Ich schreibe in Jiddisch, einer Sprache der Toten, und eine solche Sprache liebt Gespenster." Das sagte Singer zwar erst nach dem Holocaust, aber schon seine frühesten Erzählungen beweisen deutlich, dass er das Schreckensende der ostjüdischen Gemeinschaft voraussah. Entsprechend hat er die jiddische Dichtung, die sich vor ihm durch eine liebenswerte Mischung aus Heiterkeit und Trauer auszeichnete, mit einer ganz neuen Komponente angereichert: mit einem bösen schwarzen Humor, geboren aus dem Wissen, dass es für die Welt kein Heilsrezept gibt.

Isaac Bashevis Singer und sein älterer Bruder Israel Jehoschua Singer (1893- 1944), ebenfalls ein jiddischer Schriftsteller, verstanden sich als Chronisten und Nekrologen eines todgeweihten Volkes. Ihre Helden sind kauzige Typen und schrullige Eigenbrötler. Leser, die mit Baudelaire, Kafka oder Beckett vertraut sind, finden sich in Singers Büchern mühelos zurecht.

Zu nennen sind neben Singer noch Avram Goldfaden(1840-1908), dem die Gründung des jiddischen Theaters in Rumänien zugeschrieben wird, ferner der jiddische Romancier und Dramatiker Schalom Asch (er wurde 1880 in Kutno/Polen geboren, kam 1906 nach Palästina und starb 1957 in London) - aber auch der jiddische Dichter Itzig Manger (geboren 1901 in Czernowitz, gestorben 1969 in Tel Aviv), der Balladendichter, Elieser Steinbarg(1880-1932), der Fabeldichter, die neben vielen anderen jiddischen Dichtern in Czernowitz lebten. Der einzige jiddische Dichter, der heute dort lebt, ist der schon erwähnte greise Josef Burg, der von sich sagt:"Soj, as ich red Jiddische, das ist mein Muttersprach, das heißt "Mameloschen", aber ich spreche auch ein bisschen Deutsch." Sie alle gaben der jiddischen Sprache in Osteuropa eine Heimat, nachdem die westeuropäischen Sprachästheten sie eliminiert hatten.

Bekannt wurden auch: Chaim Nachman Bialek (1875-1934), einer der vehementesten Anhänger des zionistischen Aufbruchs sowie einer der wichtigsten Vertreter der jiddischen und hebräischen Dichtung - er schrieb Volkslieder, gründete mehrere Verlag und übersetzte "Wilhelm Tell" und Don Quichotte" ins Hebräische - , F.Katznelson, M.Rosenfeld, W.Warschawski, A.Sutzkewer, Mordechai Gebirtig (1877-1942) (Gebirtig verfasste jiddische Lieder und wurde 1942 in Krakau von den Nazis ermordet), Hirsch Glick (1922-1944), Pinchas Kahanowitsch, genannt der Nister( 1884-1950) und ganz besonders der polnische Jizchak Katznelson (1886-1944). Er schrieb populäre Lieder und Gedichte, Theaterstücke in jiddisch und hebräisch. Sein letztes Werk, das er kurz vor seiner Ermordung schrieb und versteckte "Der große Gesang vom ausgerotteten jüdisen Volk", wurde von Wolf Biermann übertragen und erschien bei uns 1994.

Diese besondere Mischung von Tragik und Komik in der jiddischen Literatur ist ein Ergebnis des Zwangs zum Überleben und hat trotz allem Traditionen geschaffen, insbesondere bei amerikanischen Autoren wie Philipp Roth, Bernard Malamud, dem Literaturnobelpreisträger Saul Bellow, Joseph Heller und Henry Roth, dessen Bücher mit so vielen jiddischen Redewendungen und Redensarten gespickt sind, dass den meisten ein jiddisches Glossar mit beigegeben wurde.

Malamud sagte einmal: "Wir sind alle in die Geschichte verstrickt, das ist sicher, aber einige sind es mehr als andere und Juden mehr als viele andere" und: "Ich achte den Menschen für all das, was er im Leben durchzumachen hat, und manchmal auch dafür, wie er es tut, aber er hat sich nur wenig verändert, seit er vorgab, zivilisiert zu sein, und das gleiche kann man von unserer Gesellschaft sagen."

Der Schriftsteller Norman Mailer, 1923 als Sohn jüdischer Einwanderer aus Litauen in Jersey geboren, hat einmal auf die Frage, ob seine Eltern zu Hause jiddisch gesprochen hätten, geantwortet: "Nur wenn sie wollten, dass ich sie nicht verstehe." Der amerikanische Schmelztiegel hatte Mailers Eltern wie Millionen anderer jüdischer Einwanderer aus Osteuropa, in die große englische Sprachfamilie eingegliedert. Aber

sie brachten ihr Jiddisch mit und impften das Amerikanische mit ihrer "Mameloschen".

Heute schreiben nur noch wenige Autoren jiddisch, zu diesen gehört auch die aus Wilna stammende Holocaust-Überlebende Mascha Rolnikaité, deren Erinnerungen unter dem Titel "Ich muss erzählen. Mein Tagebuch 1941-1945" 2002 im Kindler-Verlag erschienen sind.


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