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Resümee:

In Goethes Briefen, Tagebüchern und Gesprächen gibt es, wie wir gesehen haben, Äußerungen, bei denen wir nicht umhin kommen, sie antisemitisch zu nennen, sowohl aus der Sicht von damals wie aus der Sicht von heute. Doch was damals eine läßliche Sünde, in den Augen mancher vielleicht noch nicht einmal ein Kavaliersdelikt war, dünkt uns heute leichtfertig und unverantwortlich. Wie sollen wir also als Zeitgenossen des Jahrhunderts des Holocaust, die wir Goethe lieben und verehren, mit solchen Zitaten umgehen? fragt Adolf Muschg. und meint: "Es verbietet sich von selbst, ein Thema wie 'Goethe und die Juden' bloß 'goethe-immanent' zu behandeln und einen angeblich zeitgebundenen Goethe, dem wir ein wenig Antisemitismus nachsehen, gegen einen angeblich zeitlosen Goethe auszuspielen, den wir dankbar"retten", weil wir unsere Bequemlichkeit gleich mitretten. Man hüte sich also vor vorschnellen Antworten und vor einfachen Schuldzuweisungen. Dazu ist die Sache zu komplex. Vieles will dabei bedacht sein. "Man wird von neuem darüber nachdenken müssen,"schrieb Barner im Goethejahr 1982, "ob nicht Goethes wechselnde, widersprüchliche Gewichtung der religiösen und der ästhetischen, der traditionalen und der sozialen Aspekte Möglichkeiten des Ausweichens repräsentiert, die nur allzu gut auch den Bedürfnissen eines zur Inhumanität bereiten Deutschland entgegenkam." Insofern bleibt, wie Muschg ganz richtig anmerkt, "unsere Schuld mit Goethe verbunden, wohl oder übel, durch die Substanz deutscher Kultur."

Hinzu kommt, dass seit der deutschen Klassik die Meinung vorherrschte, Dichter und Künstler seien Bürger einer anderen, hoch über den Niederungen der Politik angesiedelten Welt. Allerdings blieb diese Meinung nicht unangefochten und wurde keineswegs von allen geteilt. Doch der Streit, ob die Kunst autonom sein müsse oder politischen Zwecken zu dienen habe, entzündete sich namentlich an Goethe, obwohl dieser doch mindestens ein Jahrzehnt mehr praktischer Politiker als Dichter war, aber sich dann schließlich zu den großen politischen Bewegungen der Zeit, ob es die Französische Revolution oder die Befreiungskriege waren, distanziert verhielt, auch wenn er sie in seinem Werk vielfältig, aber eben nicht "parteilich" widerspiegelt. Literaten verschiedener politischer Couleur haben ihm, angefangen mit Börne und Heine, diese Haltung verübelt, und, wie Friedrich Nietzsche es nannte, "das feine Schweigen", das Tradition wurde und im "Dritten Reich" zum Wegsehen führte, zum Nicht-wissen- Wollen und schließlich zur stillschweigenden Komplizenschaft. Der amerikanische Historiker Fritz Stern machte Goethe unlängst erst wieder in einem Artikel in der Tageszeitung "Die Welt" vom 28.12.1998 zum Ahnherrn des feinen Schweigens. Aber nicht alle Goethe-Kenner und Goethe-Liebhaber sind ihm hierin gefolgt. Max Weber,Friedrich Meinecke, Gustav Radbruch und Ernst Troeltsch, alle drei ausgewiesene Goethe-Kenner und Goethe-Verehrer, hatten zum Beispiel durchaus den Mut, politische Wahrheiten offen auszusprechen.

Aber das ist ein weites Feld, bleiben wir lieber bei unserem Thema"Goethe und die Juden"und fragen uns, ob sich in Goethes Beziehung zu Juden etwas vorgezeichnet findet, was zwar nicht unmittelbar, aber vielleicht doch mittelbar zur Shoah führte? Eine Anekdote, von deren Schrecken für uns Goethe noch nichts ahnen konnte, beleuchtet aufs schärfste den historischen Riß, der uns von ihm trennt. Goethe schreibt aus Venedig an Caroline Herder am 4.Mai 1790:"Durch einen sonderbar glücklichen Zufall, daß Götze zum Scherz auf einem Judenfriedhof ein Stück Tierschädel aufhebt und ein Späßchen macht, als wenn er mir einen Judenkopf präsentierte, bin ich einen großen Schritt in der Erklärung der Tierbilder weitergekommen." Für solche Späße sind wir", fügt der Schweizer Schriftsteller hinzu, "seit Professoren deutscher Universitäten sich für ihre Forschungszwecke die Schädel von Juden und anderen sogenannten 'Untermenschen' aus den Vernichtungslagern kommen ließen, nicht mehr zu haben. Was in Goethes Welt noch ein 'Apercu' gewesen sein mag und der unerwartete Anlaß für eine spontane Entdeckung ist in unserer Welt zum corpus delicti eines systematischen Verbrechens geworden, dessen Beitrag zur menschlichen Bildung nur noch dem Erschrecken über uns selbst dienen kann."

Andererseits muß man auch bedenken, dass Goethe ungemein vielseitig war und sich mit so vielen Themen und Gebieten beschäftigt hat, dass sich seine Auseinandersetzung mit dem Judentum, falls man seine Beziehung zu ihm und seine Beschäftigung mit dem Judentum überhaupt so nennen will, eher marginal ausnimmt. Sein Interesse galt ohnehin nicht primär und nicht nur Juden, sondern daneben noch vielen anderen Dingen. Man sollte seine Äußerungen über Juden und Judentum, ohne seine antisemitischen Aussprüche beschönigen oder wegdebattieren zu wollen, stets in einem größeren Zusammenhang sehen, im Zusammenhang mit seiner Zeit und seinem Verständnis von Religion und Politik. Häufig ist er überinterpretiert worden, vor allem von Antisemiten, die den Dichter für ihre Verblendung oder wie sie es nannten in ihrem Jargon, für ihren "Kampf gegen Juden und Judentum" mit aller Gewalt auf ihre Seite ziehen wollten.

Dass wir heute nach dem Holocaust vieles anders sehen und uns fragen, was haben Generationen vor uns über Juden gedacht und gesagt, liegt auf der Hand. Insofern war Goethe nur einer von vielen, der Juden nicht immer wohl wollte. Doch vergleicht man ihn mit Martin Luther und Richard Wagner, war er fraglos einer der schlimmsten nicht. Unter den Großen seiner Zeit war er einer der ganz wenigen, die sich nicht rundheraus ablehnend über Juden geäußert haben. Man denke nur an die unverfrorenen antisemitischen Tendenzen eines Kant oder Fichte. Goethes Grenze liegt deutlich in seiner Bindung an das Ästhetische, das Anziehung und Abstoßung bedeutet,und damit eng verknüpft, in seinem sozialen Abstandnehmen. Goethe war zweifellos kein Philosemit, kein ausgesprochener Freund der Juden. Juden gegenüber schwankte er häufig zwischen Voreingenommenheit, Gleichgültigkeit und Skepsis. Aber er gehörte auch nicht eindeutig zu ihren Gegnern. Unsinnig wäre es, Goethe, auf einen Freund oder Feind der Juden reduzieren zu wollen. Im Grunde war er keines von beiden. Mit den Schemata antisemitisch und philosemitisch allein, wird man im Falle Goethes dem komplizierten Geflecht seiner Motive nicht gerecht. Das Auf- und Gegenrechnen philo- und antisemitischer Äußerungen Goethes führt nicht weit, greift zu kurz, denn der Prozeß, in den die Juden und das Jüdische Goethe verwickelt haben, reicht ins Zentrum seines Glaubens, seiner Person und war einer der mächtigsten Antriebe zu seiner Produktion.

In seiner Einstellung zu Juden durchkreuzen sich von früh an auf oft schwer differenzierbare Weise religiöse, soziale, moralische und ästhetische Momente.

Bei der Betrachtung von Goethes differenziertem und wechselnden Verhältnis zum Judentum sind im Grunde drei Tendenzen zu unterscheiden: Erstens seine Hochschätzung für die Israeliten des Alten Testaments, insbesondere für deren geistig künstlerische Leistungen und ihre biblisch-literarische Tradition. Respekt hatte er für die Einzigartigkeit ihrer Geschichte, für die Traditionsfestigkeit ihres Volkes. Zweitens: seine Bekanntschaften und Freundschaften mit einzelnen Juden aus der jüngeren und zeitgenössischen Kultur- und Geisteswelt, die Goethe ohne Rücksicht auf Herkunft und Religion akzeptierte und oft auch bewunderte. Die besondere Rhythmik jüdischen Wesens lag Goethe zweifellos nicht, doch ließ er jede Erscheinung in ihrer Einmaligkeit oder Besonderheit auf sich wirken, also auch einzelne jüdische Menschen. Entscheidend war für Goethe immer nur die lebendige Erscheinung, der Mensch, der in individueller Wirklichkeit vor ihn trat. Sein persönliches Verhalten zu jüdischen Menschen, die ihm begegneten, ist allemal wichtiger und entscheidender, als all seine prinzipiellen Äußerungen dichterischer oder prosaischer Art.

Dass Goethe von Juden, vor allem von geistvolle jüdische Anbeterinnen nicht nur als großer Dichter Anerkennung, sondern auch als großer Mensch Verehrung empfing, dass er mit manchen Juden gut bekannt, mit einigen sogar herzlich befreundet war, dass er die Qualität jüdischer Schriftsteller nicht anders bewertete als die christlicher Schriftsteller,  das ist bekannt, besagt aber nicht mehr als: Goethe hielt sich von Juden nicht fern, weil sie Juden waren; wie er auch nicht eifrig ihre Nähe suchte. Die Begegnung mit emanzipierten, zum Teil auch bereits assimilierten Juden, mit Bankiers, Künstlern, Gelehrten brachte ihn dazu, an dem einzelnen Juden das Jüdische gewissermaßen auszublenden. Mit Hochachtung sprach er von den vielen geistbegabten, feinfühligen jüdischen Menschen. Natürlich hat Goethe durch seine persönlichen Bekanntschaften oder durch das Studium eines kleinen Diplomaten oder eines bildungseifrigen Studenten nicht alle Seiten jüdischen Wesens kennenlernen können. Mit der Realität der breiten um ihre Existenzbedingung kämpfenden Judenschaft kam er ohnehin nicht in Berührung.

Die dritte Tendenz von Goethes Beziehung zu Juden liegt in seiner Aversion gegenüber dem zeitgenössische Judentum allgemein, dessen Emanzipations- und Assimilationsbemühungen der Dichter mit Argusaugen beobachtet und nicht selten mit feindseligen Bemerkungen begleitet hat. Es hat sicher auch Augenblicke gegeben, vermutet Bab, wo Goethe der Abstand zwischen dem zeitgenössischen Judentum, in der sozialen Form, wie er es um sich erblickte, und dem Volk der Bibel unüberbrückbar erschien.

Goethe hielt die Zustände in der Gesellschaft keineswegs für gut und unverbesserlich, aber wo Theorien und nicht eine Persönlichkeit wie Napoleon die Gesellschaft umformen wollten, war Goethe stets zurückhaltend, wenn nicht feindlich. Das Leben war ihm wichtiger als jede Idee. Goethe war ein leidenschaftlicher Verfechter der feudalen Ordnung, wenn auch einer aufgeklärten, humanen und maßvollen. Aber er war kein Demokrat und kein Sympathisant des nationalen Aufbruchs.

So viel ist klar: Weder Goethe noch Schiller war ein entschiedener Sachverwalter der Juden. Beide waren keine Klassiker des politischen Fortschritts und daher den Juden ihrer Zeit und ihres Landes, deren Probleme ihnen wohlbekannt waren, nicht sonderlich hilfreich-anders als etwa Lessing, Herder, Jean Paul oder Wilhelm von Humboldt.

Gesetzliche Angleichung überkommener Kasten-,Standes-, Gruppenunterschiede hielt der alte Goethe für unmöglich und Versuche dazu für unheilvoll. "Das Auge licht sein zu lassen", wollte Goethe, unverblendet durch Theorien, Dogmen, Vorurteile. Und wenn er sich aus Abneigung gegen alle dogmatische Verallgemeinerung ablehnend gegen die Judenemanzipation verhielt, so mußte er sich genau so ablehnend gegen ein antisemitisches Dogma verhalten, das das höhere Recht rein anschauender Menschlichkeit zugunsten einer bestimmten Theorie ausschaltete. Goethe hat bewiesen, dass es für ihn ein antisemitisches Dogma, das ihn von der gerechten Würdigung einer jüdischen Persönlichkeit hätte abhalten können, nicht gab.

Auch wenn manche Äußerungen in seinen Schriften den Anschein erwecken, als ob sie Antisemiten nach dem Munde redeten, so gibt es doch keine dichterischen oder prosaischen Stelle in Goethes Werken, in seinen Briefen oder seinen Gesprächen, die mit der ideologisch kurzschlüssigen und einseitigen Argumentierungsart der Antisemiten Ähnlichkeiten haben. Der alte Goethe soll sogar sich über antisemitische Vorurteile erregt haben.

Lessings treibendes Motiv war der Zorn über die Unterdrückung der Juden. Bei dem Sohn des Kaiserlichen Rats, erst recht bei dem Weimarer Minister, klingt das nur gelegentlich einmal an.

Ein Gestalt wie Nathan den Weisen oder auch nur wie der edle jüdische Reisende in Lessings frühem Stück"Die Juden" findet sich in Goethes Lebenswerk nicht. Er ging den sicheren Weg und war ehrlich genug, das Zwiespältige seiner Haltung zu den Juden einzugestehen.

Hinsichtlich seiner Stellung zum Judentum war Goethe ein Kind seiner Zeit. Er rang sich aber auch je länger je mehr zum Standpunkt der Humanität durch, wie er in einer Besprechung zu Lessings "Nathan", den er übrigens zur Aufführung in Weimar und in Lauchstädt gebracht hatte, bemerkte:"Möge das darin ausgesprochene göttliche Duldungs- und Schonungsgefühl der Nation heilig und wert bleiben.("Über das deutsche Theater")

Lessings Hinwendung zu den Juden entsteht früh aus der scharfen Beobachtung der alltäglichen Unterdrückung, der Verfolgung. Bei Goethe korrespondiert eine aufmerksam mitleidige Distanziertheit gegenüber dem Ghetto-Judentum mit einer auffallend raschen Bereitwilligkeit, die ästhetisch-gesellschaftlich ansprechend auftretenden, durch Talent und Tüchtigkeit bereits arrivierten Juden liberal zu akzeptieren, als Interessenpartner, als geistreiches Gegenüber, als Verehrer. In der deutlichen Abneigung gegenüber Moses Mendelssohn hat man das jüdische Element ebenso überbetont wie in der Faszination durch Spinoza. In seinem Wohlgefallen an hübschen Judenmädchen indessen war fraglos jenes ästhetische Moment spürbar, das sich oft so schwer von den religiösen und sozialen Aspekten seines Judenbildes trennen läßt.

Goethes Haltung zur zeitgenössischen Judenheit wie sein Verhältnis zur jüdischen Bibel und ihrer Religion wurden nicht so sehr von simplen Vorurteilen beherrscht, vielmehr war sie integrierter Teil eines weltanschaulichen Ganzen, das seit den frühen "unter der Maske eines Landgeistlichen" verfaßten Abhandlungen Brief des Pastors zu.. und "Zwo wichtige bisher unerörterte Biblische Fragen in den Grundzügen konstant blieb und noch die Ehrfurchten-Lehre der Wanderjahre bestimmte.

Georg Simmel hat sicherlich recht, wenn er vermutet:"Vielleicht ist Goethe in seiner späteren Epoche das leuchtendste Beispiel eines ganz großen Lebens, das durch die Konvenienz in allem Aeußeren, durch die strenge Einhaltung der Form, durch ein williges Sich-beugen unter die Konventionen der Gesellschaft gerade ein Maximum an innerer Freiheit, eine völlige Unberührtheit der Zentren des Lebens durch das unverbindliche Bindungsquantum erreicht hat."

Je weiter sich Goethe seit seiner Studentenzeit vom konfessionellen kirchlichen Christentum entfernte und sich einer "Weltfrömmigkeit" annäherte, desto unwesentlicher wurden für ihn die dogmatischen Vorurteile gegenüber der religiösen Rolle, der historischen "Schuld" der Juden. Hier wurde er mit der Zeit deutlich freier.

Die grundsätzliche Minderschätzung irgendeiner Gruppe menschlicher Individuen auf nationale, religiöse oder sonstige Merkmale hin (den irrsinnigen Begriff Rasse für Menschen gab es zu Goethes Zeiten noch nicht)lag gänzlich außer seiner Denkmöglichkeit.Denn bei Goethe findet sich keine Spur von nationaler Verengung oder Übersteigerung, wie sie an Volkstümlern zu beklagen ist, die sich später zu Unrecht auf den Dichter beriefen.

Zwischen dem ehrwürdigen Volk der Bibel und der Realität des Judentums seiner Zeit tat sich ihm eine Spannung auf, die er bei aller modifizierenden Erfahrung seines langen Lebens nicht zu überwinden vermochte. Zwiespältig, widersprüchlich hat man seine Haltung zu Recht immer wieder genannt, sich freilich oft damit begnügt, ohne nach Differenzierungen und historischen Gründen zu fragen.

Dennoch gibt es eine kleine, aber wichtige Gemeinsamkeit zwischen Goethe und Juden, nämlich den Willen zur Selbstbewahrung. Für Juden war und ist er unentbehrlich und auch für Goethe war er das höchste Gut.

Ursula Homann


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