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Kafka der westjüdischste aller Prager Juden?

Kafkas Dichtung muss man auch vor dem Hintergrund seiner sozialen Umgebung und der sozialen Verhältnisse sehen und dabei berücksichtigen, dass sich Kafka erst nach und nach der Tatsache, Jude zu sein, klarzuwerden suchte.

Zuweilen spürte Kafka, je länger er sich mit dem Ostjudentum befasste, geradezu einen Widerwillen gegen die Welt, die seine eigene kulturelle Identifikation mit der Sprache der deutschen Kultur bestimmte und zugleich behinderte. Doch war und blieb seine kulturelle Kategorie die westjüdische Disposition, auch wenn ihm Ostjuden als Paradigma eines ursprünglichen, der Tradition verbundenen lebendigen Judentums galten.

Die Welt des Ostjudentums faszinierte Kafka nicht zuletzt deshalb, weil er in ihm sogar eine gewisse Ähnlichkeit in Lebensgefühl und Denkweise mit seiner eigenen Lebenseinstellung entdeckte. Allerdings gestaltete sich seine Begegnung mit der religiösen Welt der frommen osteuropäischen Juden, der Chassidim, überaus ambivalent. Mehr spielerisch konstruierte er sich am 25.Dezember 1911 in seinem Tagebuch seine eigene chassidischen Genealogie: "Ich heiße hebräisch Amschel, wie der Großvater meiner Mutter von der Mutterseite, der als ein sehr frommer und gelehrter Mann mit langem weißen Bart meiner Mutter erinnerlich ist, die sechs Jahre alt war, als er starb."

Kafkas Sicht der jüdischen Legendenwelt war überaus romantisch wie seine Sehnsucht nach dem gelobten Land, und so schrieb er einmal in einem Brief an Milena: "..wenn man mir freigestellt hätte, ich könnte sein, was ich will, dann hätte ich ein kleiner ostjüdischer Junge sein wollen, im Winkel des Saales, ohne eine Spur von Sorgen, der Vater diskutiert in der Mitte mit den Männern, die Mutter, dick eingepackt, wühlt in den Reisefetzen, die Schwester scherzt mit den Mädchen und kratzt sich in ihren schönen Haaren - und in ein paar Wochen wird man in Amerika sein."

Die Ostjuden beneidete er um ihre Naivität, obgleich er sie manchmal auch verspottete und parodierte, und schätzte ihre authentische religiöse Gemeinschaft, die eines echten Gottesglaubens und eines Gemeinsschaftsgefühls fähig war, während er seine eigene gesellschaftliche Gruppe, die assimilierten Juden des Westens, verabscheute und in ihnen den Inbegriff einer entwurzelten, gemeinschafts-, traditions- und zukunftslosen Existenz sah. Seiner Ansicht nach haben assimilierte Juden ihre Bindungen an die jüdische Gemeinschaft zerschnitten, ohne von der europäischen akzeptiert zu werden. Somit sind sie von der Welt des Gesetzes abgeschnitten, ohne irgendwo Wurzeln schlagen zu können. Kafka nannte dies einen Mangel an "festem jüdischen Boden", unter dem er selber litt. Dieses Bild kehrt in Briefen und Aufzeichnungen häufig wieder:"..nichts unter den Füßen haben."

Das Bewusstsein jüdischer Identität, individuell und als Gruppe, war überdies in Kafkas Welt stark präsent. Er selbst sah sich gleichwohl als westeuropäischen Juden im Gegensatz zu den osteuropäischen, dem Glauben und der Tradition stärker verbundenen Juden, und damit als Angehöriger einer Minderheit von Juden unter Christen und zwar unter christlichen Tschechen. Er hatte durchaus Sympathie für die Tschechen, doch fühlte er sich ihnen nicht zugehörig. Als Deutscher oder sterreicher fühlte er sich auch nicht; zu Deutschen hatte er keine Beziehungen, die über das Geschäftliche hinausgegangen wären, wenn sie nicht Juden waren, und doch gehörte er zur deutschen Literatur. Immerhin schrieb er seine Texte in deutscher Sprache. Franz Kafka war also ein jüdischer Schriftsteller in deutscher Sprache, der inmitten von Tschechen lebte. Gegenüber Milena schildert Kafka seine persönliche Lage als individuelle Zuspitzung der westjüdischen Situation im allgemeinen. "Ich habe eine Eigentümlichkeit, die mich von allen Bekannten nicht wesentlich, aber graduell sehr stark unterschneidet. Wir kennen doch beide ausgiebig charakteristische Exemplare von Westjuden. Ich bin, so viel ich weiß, der westjüdischste von ihnen.. nichts ist mir geschenkt, alles muss erworben werden, nicht nur die Gegenwart und Zukunft, auch noch die Vergangenheit, etwas, das doch vielleicht jeder Mensch mitbekommen hat, auch das muss erworben werden, das ist vielleicht die schwerste Arbeit, dreht sich die Erde nach rechts - ich weiß nicht, ob sie das tut -, müsste ich mich nach links drehn, um die Vergangenheit nachzuholen."

Trotz seiner tiefen Abneigung gegenüber seiner bürgerlichen westlichen jüdischen Herkunft fühlte sich Kafka stets als Jude, und so es sicherlich auch kein Wunder, dass es in seinen Tagebüchern und Briefen oft um seine jüdische Identität geht. Seine Ablehnung der Selbstzufriedenheit des Glaubens, der institutionalisierten Heilsgewissheit hat ihn zumindest zu einer anderen Betrachtung der Religion geführt. Doch darf man nicht außer acht lassen, dass Kafka als deutschsprachiger Jude in einem jüdischen Milieu aufgewachsen ist, dass er fast ausschließlich mit Juden zusammen war und zu jener Generation gehörte, die sich mit dem im Auflösungsprozess befindenden Judentum der Eltern auseinanderzusetzen hatte.

Obgleich sich Kafka den Wurzeln seines ihm fast abhanden gekommenen Judentums auf vielfache Weise zu nähern versucht hat, so ist er doch zum Glauben seiner Väter nie wirklich zurückgekehrt. Denn seine Sache schien es nicht zu sein "am Sabath Wege zu bauen" (Walter Jens).


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