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Wie ich Goethe und Schiller für mich entdeckte

Als ich etwa dreizehn Jahre alt war, wollte ich unbedingt meinen Vater ins Rostocker Theater begleiten. Mein Vater verfügte damals als Kulturredakteur einer Zeitung ständig über zwei Theaterplätze. Auf dem Programm stand Goethes "Iphigenie auf Tauris." Was ich mir von dem Abend versprochen hatte, weiß ich nicht mehr genau. Wahrscheinlich hatte mich einfach der Titel gereizt. Denn mit Iphigenie, Agammemnon, Klytämnestra, Orest und anderen Gestalten aus der griechischen Mythologie war ich durch meine ausgedehnte, wiederholte Lektüre der griechischen Götter- und Heldensagen bestens vertraut. Ob ich an dem besagten Theaterabend alles verstanden habe, wage ich heute zu bezweifeln. Doch so viel ist sicher, das Stück hatte mich so beeindruckt, dass ich mir am nächsten Tag das Textbuch aus dem Bücherschrank meines Vaters hervorkramte und den Eingangsmonolog von Iphigenie auswendig lernte. Er beginnt mit den Worten "Heraus in eure Schatten rege Wipfel", mit denen die nach Tauris verschleppte, heimwehkranke Iphigenie aus der "Göttin stilles Heiligtum" heraustritt, um dem Meer, das sie "von den Geliebten" trennt, ihre Gefühle und Sehnsüchte anzuvertrauen und zu bekennen: "Und an dem Ufer steh' ich lange Tage, das Land der Griechen mit der Seele suchend."

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Ich gehöre zu jener Generation, die als Kind noch das Dritte Reich und den Zweiten Weltkrieg miterlebt hat. Im Oktober 1943 wurden in Rostock wegen der ständigen Luftangriffe die Schulen geschlossen. Die älteren Schüler und Schülerinnen wurden in die Rüstungsindustrie gesteckt, wir Jüngeren kamen mit unseren Lehrern und Lehrerinnen in ein sogenanntes KLV-Lager (Kinderlandverschickungslager), in dem wir weiter unterrichtet wurden, mehr schlecht als recht, denn hier hatten nicht unsere Lehrer und Lehrerinnen das Sagen sondern achtzehnjährige BDM-Führerinnen. Eines Tages bekam ich eine fiebrige Angina. Da man fürchtete, dass sich diese Krankheit zu einer Diphtherie ausweiten könnte, wurde ich vorsichtshalber isoliert. Ich kam in ein Einzelzimmer und wurde extra betreut. Besuchen durfte mich keiner.

In dieser Zeit habe ich Schillers Balladen für mich entdeckt. Fragen Sie mich nicht, woher ich das Gedichtbuch hatte. Ich weiß nur - und sehe die Szene noch heute so anschaulich vor Augen, dass ich Sie malen könnte -, dass ich mit fiebrigen Wangen atemlos Schillers Balladen verschlang, eine nach der anderen und dabei unversehends in eine andere, mir bis dahin verschlossene Welt eintauchte. Draußen hörte ich, wie meine Freundinnen und Mitschülerinnen (damals sagte man Kameradinnen) unter der strengen Ägide der BDM-Führerinnen wie die Soldaten exerzieren lernten - linksrum, rechtsrum, Augen geradeaus, stillgestanden -, ab und an ertönten irgendwelche der damals üblichen vaterländischen Lieder, und ich lag im Bett und erfreute mich meiner kurzfristigen Freiheit, die es mir erlaubte, eine mir bis dahin fremde Welt kennen zu lernen.

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An Feiertagen durften wir vom KLV-Lager nach Hause, so auch Ostern 1944. Am Karfreitag hatten wir, meine Eltern, mein jüngerer Bruder und meine Wenigkeit, einen weiten Spaziergang unternommen und uns der ersten Frühlingssonnenstrahlen erfreut. Nach dem Kaffeetrinken schaltete jemand von uns das Radio an. Zu hören waren die ersten Verse von Faust I.:"Ihr naht euch wieder, schwankende Gestalten.." Ich stutzte, und als dann das Vorspiel im Himmel begann, zog ich einen Stuhl an den Radioapparat ganz dicht heran und lauschte gebannt den Versen, die aus dem Radio zu mir drangen. Ich werde auch hier, wie bei "Iphigenie" sicherlich nicht alles auf Anhieb verstanden haben. Aber manches sprach mich unmittelbar an. Vor allem Fausts Seufzer "dass ich erkenne, was die Welt im Innersten zusammenhält" entsprach im Grunde meinem eigenen dunklen Sinnen und Trachten. Damals glaubte ich noch, eines Tages ein Antwort auf diese Frage bekommen zu können, bis mir dann schließlich klar wurde, nicht zuletzt durch die Schriften von Karl Jaspers und anderer Philosophen, dass es auf die wichtigsten Fragen keine endgültige und für alle verbindlichen Antworten gibt und der Mensch mit ungelösten Fragen leben und sterben lernen muss. Wie dem auch sei, auch Goethes "Faust" elektrisierte mich auf Anhieb und hat mich mein Leben lang begleitet - nicht immer und nicht ständig, aber als Lese- und Nachschlagebuch und Anregungsquelle ist er mir unentbehrlich geworden, und die kleine vergilbte Faust-Ausgabe aus dem Bücherschatz meines Vaters steht nach seinem Tod nun in unserem Bücherschrank immer griffbereit ebenso wie die nicht minder vergilbte Iphigenie-Ausgabe.

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Einige Jahre nach dem Zusammenbruch des Nazi-Regimes flüchteten wir in den "goldenen Westen", und ich setzte meinen Schulbesuch in einer westfälischen Kleinstadt fort, an einer von den "Armen Schulschwestern" geleiteten Oberschule. Eines Tages war es dann so weit, ich wollte oder, besser gesagt, ich sollte das Abitur machen. An unserer Schule war es in jenen Jahren üblich, dass jede Schülerin für die mündliche Prüfung im Fach "Deutsch" ein Gedicht auswendig lernte. Ich schwankte zwischen Iphigenies Eingangsmonolog und Hermann Hesses "Stufen". Das Hesse-Gedicht stand in unserer Schulklasse so hoch im Kurs, dass mir eine Mitschülerin gestand, sie liebe dieses Gedicht über alle Maßen, aber für die Nonnen sei es ihr glattweg "zu schade." Meine Deutschlehrerin war begeistert, als sie hörte, dass ich den "Iphigenie-Monolog" parat hatte und überredete mich, ihn zu wählen, denn das käme nicht alle Tage vor, dass sich eine Schülerin ausgerechnet dieses Gedicht aussuche. Ich rief mir den Monolog also wieder ins Gedächtnis zurück und sagte ihn mir, einen Tag vor der mündlichen Prüfung - es war ein Sonntag - immer wieder auf, nicht weil ich Angst hatte, zu versagen, sondern aus lauter Nervorsität und weil ich so kurz vor der Prüfung nichts "Vernünftiges" mehr denken und tun konnte. Der Erfolg war und ist, dass ich Iphigenies Selbstgespräch noch heute auswendig hersagen kann und mir mit ihm manche schlaflose Nacht vertreibe.

In einer Nacht drängte sich mir dieses Gedicht allerdings mit aller Macht auf. Das war in der Nacht vor unserem Flug nach Kreta. Kreta hatte nämlich für mich eine ganz besondere, fast mystische Bedeutung. Als ich nach dem Zusammenbruch, nach all dem Chaos, den das Kriegsende mit sich gebracht hatte, 1947 wieder zur Schule gehen konnte, in diesem Falle kann man fast sagen, durfte, hörte ich im Geschichtsunterricht zum ersten Mal von der kretischen Kultur und damit mehr oder weniger auch von der Wiege unserer Kultur. Ich war begeistert, saß mit offenem Mund und weit aufgerissenen Augen da, lauschte atemlos den Worten unserer Lehrerin und malte mir das alte Kreta in den leuchtendsten Farben, wobei ich bis heute keinen großen Unterschied mache zwischen Kreta und Griechenland, obwohl dies - ich weiß es - nicht ganz korrekt ist. Doch niemals hätte ich in jenen Tagen gedacht, als alle noch im wahrsten Sinne des Wortes ums Überleben kämpften, dass ich die Ausgangsstätte unserer Kultur selbst eines Tages in Augenschein nehmen würde. Indessen - ein Viertejahrhundert später war ich in der Lage mit dem Geld, das ich durch Rezensionen und kleine Zeitschriftenartikel mir zusammengeschrieben habe, für meinen Mann und meine Wenigkeit eine Studienreise nach Kreta, das für mich, wie gesagt, gleichbedeutend mit Griechenland war, zu finanzieren. Dass ich in der Nacht vor unserem Abflug nicht schlafen konnte und mir die Gedichtzeile "das Land der Griechen mit der Seele suchend" aufsagend, nun direkt auf mich, meine Griechenland-Sehnsucht und unsere bevorstehende Reise bezog, liegt auf der Hand.

Die Reise hat, wenn ich ehrlich sein soll, mich trotz moderner Zivilisationseinbrüche und Zivilisationsschäden, nicht enttäuscht. Als wir am Morgen nach unserer Ankunft auf der Anhöhe vor dem Palast von Knossos standen, bei herrlich warmer und nicht zu heißer Herbstsonne und ich über das Land hineinschaute und all die Olivenhaine, Weinberge und Obstgärten sah, fiel mir die einstige Geschichtsstunde wieder ein, und ich dachte, ich träume, und konnte mein Glück, das Land der Griechen nicht nur mit der Seele suchen zu müssen, nicht fassen. Träumend und wie verzaubert ging ich einige Tage später mit unserer Gruppe am frühen Morgen, vor dem Einfall der großen Touristenströme, ebenfalls durch die minoische Palastanlage von Phaestos.

Wir sind seitdem weder auf Kreta wieder noch jemals im Kernland Griechenland gewesen. In Gedanken und Träumen freilich bin ich oft dort, allerdings weniger im modernen heutigen Griechenland, sondern überwiegend im alten Griechenland, im Land Homers, wo die Ilias und die Odyssee spielen, in jenem Land, dessen Götter- und Heldensagen meine Kinderseele früh beschäftigt und entzückt haben. Später kamen die Philosophen hinzu, Sokrates, Platon, Aristoteles und zum Schluss die Vorsokratiker, obwohl sie den drei Philosophen zeitlich vorangingen. Bei ihnen habe ich an eine Verszeile aus Hesses "Stufen" denken müssen: "Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne." Denn bei den Vorsokratikern ist der Zauber der ersten Philosophie ganz deutlich zu spüren. Verbunden ist Griechenland für mich auch mit Namen wie Apoll und Dionysos, nicht zuletzt durch Nietzsche, ferner mit Orpheus und Eurydike und sogar mit Euklid und Pythagoras, deren Lehrsätze mir schon in der Schulzeit wegen ihrer Klarheit sofort einleuchteten.

Ich kann Goethe gut verstehen, der sinngemäß einmal gesagt haben soll, er könne auf Judentum und Christentum gut verzichten, aber niemals auf die Antike. Der Aussage des Weimarer Dichterfürsten: "Unter allen Völkerschaften haben die Griechen den Traum des Lebens am schönsten geträumt" stimme ich gleichfalls voll und ganz zu. Natürlich weiß ich auch um die dunklen Seiten der griechischen Kultur und Geschichte, die eifrige Soziologen und andere Wissenschaftler ausfindig gemacht haben. Nur - bei den alten Griechen erlaube ich mir halt den Luxus, allein die positiven, die hellen Seiten ihrer Kultur und Geschichte wahrzunehmen.

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Ach so, Sie wollen noch wissen, ob ich den Monolog im Abitur fehlerfrei aufsagen konnte? Ausgerechnet wir mussten als erste Abitursklasse keine Gedichte mehr aufsagen, weil der mündlichen Prüfung diesmal nicht der bisherige lyrikbegeisterte Schulrat aus Münster beiwohnte, sondern eine mathematikbesessene Oberstudienrätin, die mit Gedichten wenig im Sinn hatte.

Aber wie gesagt, Iphigenies Monolog und ganz besonders die Zeile "das Land der Griechen mit der Seele suchend" begleitet mich immer noch - nicht nur in schlaflosen Nächten.


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