. . auf


Wer war Judas? Verräter oder Heilsbringer?

Wer war Judas? Verräter oder Heilsbringer? Die verrufenste Gestalt des Christentums oder Freund Jesu?

Die Geschichte, wie sie in den Evangelien steht: Judas, einer der zwölf Jünger, verrät Jesus mit einem Kuss (Judaskuss) für ein kleines Handgeld, (Judaslohn) von dreißig Silberlingen an die Gerichtsbarkeit.

Der Judaskuss, der sich in Bildern und Gedichten über Jahrhunderte gehalten hat, steht für eines der schlimmsten menschlichen Vergehen, für den Missbrauch von Vertrauen eines Freundes. Er ist ein Synonym für einen irreparablen Vertrauensbruch, der eine zuvor innige Beziehung voraussetzt, er steht für Unaufrichtigkeit und geheuchelte Freundschaft. (Beispiel Bild von Caravaggio)

Kein Geringerer als der Böse selber motivierte Judas zur Tat: "Es fuhr aber der Satan in Judas." Auch Jesus prophezeite ihm Unangenehmes: "Wehe dem Menschen, durch welchen des Menschen Sohn verraten wird."

Von Judas erzählen alle vier Evangelien mit unterschiedlicher Schwerpunktsetzung.

Nach Mt.26 beging Judas den Verrat, weil er den Glauben an Jesus verloren hatte, weil er, so das Johannesevangelium (Joh.6.67-72), schon immer ungläubig gewesen ist, hier wird mit Judas besonders hart umgegangen. Hier wird er als habsüchtig, geldgieriger Wucherer gezeichnet. Offensichtlich ist er das einzige Schaf, das verloren ging, Bei Matthäus heißt es, es wäre besser, er wäre nie geboren worden. Er erhängte sich, von Gewissensqualen zermartert, so die Evangelien, oder stürzte zu Boden und sein Leib barst auseinander, dass die Eingeweiden herausfielen, wie die Apostelgeschichte beschreibt.

In allen Evangelien kommt Judas schlecht weg.

Judas galt durchweg und gilt oft noch als Inkarnation des Bösen, als Verräter schlechthin. Sein Verrat steht am Beginn des Leidensweges Jesu, der mit der Kreuzigung endet. Der Verrat hat seit diesem Ereignis einen Namen, einen Preis und ein Symbol. Judas ist ein Scheusal. Er ist ein Nichtswürdiger, der aus niederen Bedürfnissen den verrät, von dem er geliebt wird.

Eine andere Interpretation besagt, dass Judas Lieblingsjünger, "geheimer Freund Jesu" (Genfer Professor Rodolphe Kasser) war und von diesem davon überzeugt werden musste, den Verrat zu begehen. Die Interpretation des Verräters Judas als des wahren Jüngers Jesu spiegelt eine Auffassung wider, die Christi Tod erst aufgrund geheimer Belehrung als etwas begreift, das notwendig ist.

Ohne Judas indes wäre, so sagen manche, das Erlösungsgeschehen nicht möglich gewesen. Hätte Judas den Gottessohn nicht verraten, so wäre Jesus nicht getötet worden, hätte folglich auch nicht auferstehen und sein Erlösungswerk nicht verrichten können. Der "Heilsplan" Gottes wäre nicht durchgeführt worden. Nach dieser Theorie hätte Judas also eine notwendige Funktion im Erlösungsgeschehen. Ohne ihn ging es nicht, und deshalb ist er auch nicht schuldig. Ein revoltierender Judas hätte Jesus gerettet und uns allen den Tod gebracht. (Jens, der Fall Judas) Dann wäre die Erlösung ausgeblieben. (Laut Lapide diese hat für Juden auch noch nicht stattgefunden, deshalb erkennen Juden Jesus auch nicht als Messias an.)

(Goethe und Heine haben Jesus als Messias nicht akzeptiert, für Döblin wiederum wurde der Gekeuzigte zum entscheidenden Erlebnis auf seinem Weg zum Katholizismus)

Jesus wiederum selbst weiß, dass Judas ihn verraten wird, und doch verhindert er den Verrat nicht, um die geplante Erlösung zu ermöglichen, aber auf Kosten des armen Judas. Der Barmherzige benutzt offenbar Judas als Instrument und lässt zu, dass einer seiner Schüler schuldig wird. Ist Glück oder Erlösung von vielen auf Kosten eines Unglücklichen legitim? Kann man noch von freier Entscheidung und Verantwortung sprechen, wenn einer etwas tun muss? Oder hat Judas freiwillig seine Aufgabe übernommen? Hat er zugestimmt?

Judas Iskariot, der Jesus von Nazareth, seinen Herrn, dem Hohen Rat "überlieferte", ist in der Tat eine rätselhafte Figur. Er war ein Verräter, gewiss, aber war seine Tat nicht die notwendige Voraussetzung von Kreuzigung und Auferstehung? So hat man auch gemeint, die entscheidende Sünde des Judas sei nicht der Verrat gewesen, den er ja bald bereute, wie es bei Matthäus heißt, sondern der Selbstmord. Im Selbstmord nämlich habe sich seine desperatio gezeigt, die Verzweiflung, der fehlende Glaube an die Größe der göttlichen Gnade.

Trias "Geld-Verrat-Selbstmord/Tod" wurde schon früh reflektiert, die Liebe zum Geld treibt den Menschen weg von Gott und den Menschen, Verrat weckt Misstrauen, löst Ängste beim Verräter aus, die schließlich in Einsamkeit und Verzweiflung (Tod) münden.

Judas Ischariot ist bis heute mit negativen Assoziationen besetzt im Gegensatz zum Judas Barnabas (Paulusbegleiter)

Doch die Judas-Geschichte steckt voller Rätsel. Jesus war ein stadtbekannter Mann, den jeder kannte. Trotzdem musste Judas die Soldaten zu ihm führen, gerade so, als würde Jesus sich bei Tageslicht nie blicken lassen. Warum diese Heimlichtuerei, nachts im Garten Gethsemane, so umständlich und dann noch mit einem Kuss als Erkennungszeichen? Es wäre doch auch einfacher gegangen. Oder bedeutete der Kuss Abschied und nicht Verrat?

Nimmt man an, dass Judas unschuldig von höherer Stelle abkommandiert wurde, ergeben sich einige Fragen und Schlussfolgerungen.

Passt es zur Lehre Christi, dass dieser seinen Gefolgsmann ins "offene Messer" laufen und somit bewusst zum Verräter werden lässt? So betrachtet hat Judas das größere Opfer vollbracht, Jesus wurde zwar gekreuzigt, aber anschließend verehrt, Judas ist mit Schimpf und Schande in die Geschichte eingegangen und bis heute nicht rehabilitiert worden.

Ist demnach Judas' Bild die systematisch ungerechte Verzerrung eines im guten Glauben Gescheiterten?

Es gibt auch noch andere Gestalten in der Bibel, die sich etwas haben zu Schulden kommen lassen.

Schließlich hat auch Petrus den Herrn verraten und kommt später zu höchsten Ehren. Geschichtliche Ungerechtigkeit im Namen Jesu des Gerechten? Eugen Drewermann: "Kaum einem Menschen tut die Bibel so sehr Unrecht wie dem Judas, Von Jesu Aufruf zur Nächstenliebe, ja sogar Feindesliebe blieb bei Judas nicht viel übrig."

Kann da noch von Gerechtigkeit die Rede sein?, fragt Pinchas Lapide und zitiert Heinrich Böll. "Es ist schon merkwürdig, dass dem Petrus die dreimalige Verleugnung eher den fast liebenswürdigen Kredit menschlicher Schwäche eingebracht hat; dreimal und in welcher Situation des Hohnes und der Verlassenheit! - krähte der Hahn, es weinte einer bitterlich und wurde später der erste Papst. Der andere, Judas, warf die Silberlinge in den Tempel, bekannte, er habe unschuldig Blut verraten, verzweifelte und beging Selbstmord. Man muss, so meine ich, wenn man über den Fall Judas liest, immer den Fall Petrus in Ergänzung dazu denken, die beiden Karrieren dagegenhalten. Dazu denken muss man auch, dass Petrus, obwohl eindeutig Jude, wie alle Jünger und Apostel, niemals als "typisch jüdisch" interpretiert und dargestellt wurde. Der Jude, nicht etwa ein Jude, blieb aber Judas." So weit der Katholik Heinrich Böll. (S.29)

Helmut Gollwitzer: "Der Verräter Judas darf nicht schlechter gestellt werden als der Verleugner Petrus, der Verfolger Paulus, die versagenden Jünger alle. Weder seines Verrats noch seines Selbstmordes wegen darf er außerhalb des Wirkbereiches der vergebenden, Leben gebenden Liebe gestellt werden. Wird hier eine Grenze gezogen, dann wird zweifelhaft, wo wir anderen bleiben, die wir oft allzu selbstverständlich uns innerhalb dieser Grenzen wähnen, wir kleinen Versager, oft auch Verräter." (42)

(Krummes Holz Aufrechter Gang. München 1971.

3.Wirkungsgeschichte.

Mit der Judasgestalt ist eine folgenschwere und verhängnisvolle Wirkungsgeschichte verbunden. Vor allem in der Karzeit wurde sie immer wieder aufgegriffen, ebenso in mittelalterlichen Passionsspielen, vor allem in Oberammergau. Im Umgang mit dieser Gestalt ist viel Unrecht geschehen, in der Erinnerung an Judas selbst und an den Juden.

4.Antijudaismus

Lange Zeit wurde der Name Judas als Schimpfwort für einen Verräter benutzt. Er bezeichnete eine besondere jüdische Schuld. Anfang und wichtiges Moment des christlichen Antijudaismus, christlicher Judenfeindlichkeit, die geschichtlich tief im Christentum verwurzelt war bzw. leider noch immer ist.

Judas als der archetypische Jude (Langenhorst), eine schlimme antijüdische Sündenbockprojektion, Judas der geldgierige Geldschaffler und Veruntreuer, Judas als Zelot, fanatischer Glaubenseiferer, der enttäuschte politische Freiheitskämpfer, der von Jesus die Errichtung eines irdischen Herrschaftsreiches Israel erwartete und ihn verriet, als er sah, dass Jesus etwas ganz anderes im Sinn hatte.

Judas wurde im Antijudaismus und Antisemitismus mit "Jude" gleichgesetzt als Abwertung des ganzen Judentums. In der Apostelgeschichte 2,11 ist schon von "Juden und Judengenossen" die Rede. Gleichsetzung von Judas und Jude bei den Kirchenvätern Origines (185-253 n.Chr.), Augustinus (354-430), Thomas von Aquin (1225-1274). Judas als der Böse oder das Böse schlechthin.

In der Karzeit wurde die Judasgeschichte immer wieder aufgegriffen, daher haben Juden (s. Manès Sperber Churban oder die unfassbare Gewissheit S.7) die Osterzeit oft gefürchtet, weil diese Christen nicht selten in eine Pogromstimmung gegenüber ihren jüdischen Nachbarn versetzte. Viele Juden verbarrikadierten sich in der Osterzeit in Kellern. Freude über die Auferstehung Jesu ging oft einher mit Hass oder Wutgefühlen gegenüber Juden.

Dr.Ulrich Firnhaber, Meerbusch (Leserbrief der FAZ) bezieht sich auf Ernst Zahrnt und Pinchas Lapide und meint, Paulus habe um 50 n.Chr. nichts vom Verrat und Freitod des Judas gewusst, obwohl es noch Augenzeugen, Petrus und Jacobus, gab. Haben wir es hier mit einem erfundenen Feindbild zu tun von Vertretern der jungen Christengemeinde, um sich von den Juden, die sich nicht zu Christus bekannten, abzugrenzen und wirkungsvoll abzuheben?

Pinchas lesen S.43/44

Gleichwohl wurde Judas zum Gottesmörder erklärt und mit ihm die Juden insgesamt. Die Kirchengeschichte ist durchtränkt von diesem Mythos. Jude und Judas identifizierte man bald miteinander. Das nahm dämonische Züge an mit den bekannten schlimmsten Folgen. Millionen haben dafür bezahlen müssen.

Ein Jude zu heißen war immer mit dem Generalverdacht verbunden im Namen des Judas verschlagen, verräterisch, geldgierig zu sein. "Der Jude", "er ist ein Jude" oft und lange im negativen Sinne benutzt. Der Jude schlechthin wurde als Sündenbock benutzt. Edzard Schaper spricht sogar im Hinblick auf die Judas-Geschichte von einer Dolchstoßlegende. Solche Verirrungen machten sich dann auch die Nazis zunutze.

Pinchas (S.47): "So kann auch Adolf Hitler in die Fußstapfen unzähliger Kirchenväter, Päpste und Reformatoren behaupten."Die Juden haben Jesus gekreuzigt, darum sind sie nicht wert zu leben." Und so führt eine fast 2000jährige Blutspur von Golgatha über die Massenkreuzigungen der Römerlegion und die Judenmetzeleien der Kreuzzüge bis in die Gasöfen von Auschwitz: Vom Mythos des "Christenmordes" bis hin zur Tatsache des Völkermordes."

Mirjam Kübler weist in ihrer Dissertation "Judas Iskariot-Das abendländische Judasbild und seine antisemitische Instrumentalisierung im Nationalsozialismus" darauf hin, dass

die Nazis, vor allem Julius Streicher im "Stürmer", weniger im "Völkischen Beobachter" Judas zum jüdischen Rassenschänder stilisiert haben.

Schon bei Hans Holbein dem Jüngeren wird im Bild "Graue Passion" ein Jude hypercharacktersiert mit einer ausgeprägten Hakennase, fleischigen Lippen und markanter Augenpartie. Der Jude als solcher wird als Karikatur dargestellt. Darauf griffen die Nazis zurück.

Im "Stürmer" Nr.47 November 1931 heißt ein Bild "Der Wurm", auf dem ein Wurm aus einem Apfel kriecht. Unterschrift:"Wo etwas faul ist, ist der Jude die Ursache."(S.183)

Auf einem anderen Bild zerdrückt ein Jude (ebenfalls verzerrt dargestellt) einen Floh. Dieser sagt:"Ich werde kaputt gemacht und der darf leben, der Jud', obwohl er von uns beiden der größere Blutsauger ist."

Judas Iskariot erscheint immer wieder als Träger "jüdischer Rassenmerkmale". Dann ist die Rede vom "arischen" Christus und vom jüdischen Judas. (S.320) Der jüdische Judas als natürlicher Feind des "arischen" Christus im frühen Stürmer (1924-27)

1939 wird der Freitod des jüdischen Schriftstellers Ernst Toller kaltblütig als eine moderne Wiederholung des durch Judas Iskariot begangenen bewertet.

Pinchas Lapide ( S.15), schreibt, dass Manfred Röder, ein Neo-Naziführer, noch 1978 Dietrich Bonhoeffer in einem öffentlichen Brief einen "Judas" nannte, "der sein Vaterland verraten hatte."

Erst kürzlich im Januar 2009 soll ein Anhänger von Lefevre die heutigen Juden für mitschuldig am Gottesmord erklärt haben.

Der Jesuit Georg Sporschill (Südd. Juni 2006) hält den Mythos vom Verrat des Judas für eine böswillige Missinterpretation. Diese habe mit einer falschen Übersetzung zu tun.

Judas wurde aber auch deshalb so negativ gesehen, weil Menschen mit dem "verborgenen dunklen Gott, der Leid und Elend zulässt", nicht zurecht kamen. Spielt der verborgene Gott auch in den neuen Interpretationen noch eine Rolle? In jüngster Zeit beginnt man sowohl in der neutestamentlichen Exegese als auch in der modernen Dichtung, Judas und seine Tat in einem neuen Licht zu sehen. Eine gewisse Rehabilitierung des Judas hat nach 1945 eingesetzt, Nach der neuen Version erfolgte die Auslieferung Jesu an seine Häscher auf dessen eigenen bzw. auf Gottes Befehl. So wird der Verratsaspekt völlig eliminiert. Judas und Jesus realisieren gemeinsam das von Gott beschlossene Heilswerk. Judas als Werkzeug des göttlichen Heilswillens. Aber das Problem bleibt, dass Gott für die Befreiung der Menschen von Gewalt und Tod eines Menschen bedurfte, durch den indirekt wiederum Gewalt und Tod überhand gewinnen konnten. Die Entlastung des Judas geschieht so zu Lasten Gottes.

Wie dem auch sei, eine sichere Rekonstruktion der historischen Ereignisse und ihrer Deutung lassen die Texte in der Bibel eindeutig nicht zu.

5.Judas in der Literatur:

Fragen über Fragen (Langenhorst), die diese Figur zum bleibenden Rätsel und damit zur schriftstellerischen Herausforderung machen, nicht zuletzt deshalb, weil im Blick auf das Schicksal des Judas auch das Schicksal Jesu im besten Sinne frag-würdig (des Fragens würdig) geworden ist.

Judas gehört mithin zu den herausragendsten biblischen Figuren, die die Schriftsteller immer wieder fasziniert haben. Kein Jesus-Roman kommt ohne eine Porträtierung des Judas aus Krijot aus. Seine Rolle bleibt schon in den Schriften des Neuen Testaments unklar und uneindeutig.

Zunächst hielt man sich in der Literatur an die biblischen Vorlagen. Bei Abraham a Santa Clara (Judas der Erzschelm 1686) ging es um die Wandlung des zunächst gläubigen Jüngers. Einen Wendepunkt brachte Klopstocks "Messias" (1748-73). Judas glaubt hier an eine irdische Messiasherrschaft Jesu, bei der er selbst zu Macht und Reichtum gelangen werde. Er will mit dem Verrat Jesus zwingen, sich in seiner Herrlichkeit zu offenbaren. Auf dieser neuen Judas entlastenden Interpretation beruhen nahezu sämtliche Darstellungen der Folgezeit. Den Patrioten Judas, der nicht abtrünnig wird und auch nicht aus Gewinnsucht verrät, sondern selbst ein Enttäuschter ist, wollte Goethe in seinem "Ewigen Juden" zeigen. Aber das Stück blieb Fragment.

( s.Lapide S.38)

Viele literarische Ansätze versuchen Judas von plakativen Beschuldigungen freizusprechen.

Hermann Häring, Professor für dogmatische Theologie, geboren 1937 in Nijmwegen, ist sogar der Meinung, dass die Judas-Gestalt im letzten Jahrhundert bei den Schriftstellern mehr Aufmerksamkeit gefunden hat als bei den Theologen.

Einer der ersten Versuche, Judas nachträglich literarisch zu rechtfertigen und freizusprechen vom Schuldedikt der Geschichte ist der Sonettenkranz von Schalom Ben-Chorin (1913-1999). Er stammt aus der Zeit, als Schalom Ben-Chorin noch unter seinem Geburtsnamen Fritz Rosenthal in München lebte, und wurde 1935 in der

Gedichtsammlung "Das Mal der Sendung" veröffentlicht. Bemerkenswert: Hier liegt das frühe Beispiel einer Rechtfertigung des Judas vor - aus Sicht eines jüdischen Autors.

Das Gedicht "Judas Ischariot" beginnt mit dem Satz "Er war der Gläubigste unter allen Jüngern" und im letzten Vers umarmt ihn Gott und spricht zu ihm "Du bist nach ihm (nach Jesus d.V.) mein allerliebster Sohn."

Ben-Chorin hält sich einerseits ganz eng und treu an die biblischen Vorlagen, noch ungetrübt von Nachfragen der historisch-kritischen Exegese, wenn er etwa andeutet, dass die Jünger Matthäus und Johannes auch die Autoren der ihnen zugeschriebenen Evangelien seien. Aber er schiebt in die biblischen Vorgaben eine radikal neue Deutung des Judas, nicht Verräter aus Boshaftigkeit, Geldgier oder Schwachheit - sondern Prophet, Mitwisser und Mittäter des Erlösungswerkes, schließlich Gottes zweitliebster Sohn. Hier wird eine wirkmächtige Umdeutung biblischer und vor allem wirkungsgeschichtlicher Stereotypen und Klischeevorstellungen unternommen. In seinem Buch "Bruder Jesus" (1967)hat der Schriftsteller die Grundidee seiner Gedichte wieder aufgenommen und vertieft.

Schalom Ben-Chorin führt in "Bruder Jesus aus (S.140ff): Der Verräter Judas ist die rätselhafteste Gestalt der evangelischen Geschichte. Diese Gestalt bleibt merkwürdig schattenhaft. Die Motive des Verrats sind unklar. Es liegt nahe, anzunehmen, dass es tatsächlich ein politischer oder eschatologischer Aktivismus des Judas war, der ihn zu dem scheinbaren Verrat drängte. Judas will den Meister in eine Situation manövrieren, in der er sich als König der Juden offenbaren muss, er will ihn zur Entfaltung seiner messianischen Kräfte zwingen.

An der Historizität der Gestalt, meint Schalom Ben-Chorin, sei nicht zu zweifeln, denn gerade er war für die Urgemeinde eine so überaus peinliche Erscheinung, dass man sie nicht erfunden hätte.

Durch seine Tat schließt sich Judas von der Erlösung aus. Der Verrat war in der Heilsökonomie Gottes vorgesehen. Er ist die tragischste Gestalt im Neuen Testament.

Schalom Ben-Chorin weist auf eine seltsame Darstellung des Judas am Bronzeportal der Kathedrale von Benevento aus dem Jahr 1279 hin. Das Relief zeigt Judas an einer Palme hängend, mit aufgeplatztem Leib, aus dem die Eingeweide dringen. Die Gestalt des Erhängten aber wird von einem Engel umarmt, der den Verräter küsst. (Pinchas (S.13) ist allerdings anderer Meinung. Er sieht im Engel einen Teufel.) Aber bleiben wir bei Ben-Chorins Sicht.

"Welche Erkenntnis des unbekannten Künstlers! Judas wird hier als der Jünger gesehen, der sich opfert, der sein Heil opfert, um die Erlösertat des Meisters zu bewerkstelligen. Während der Fluch auf ihm lastet, nimmt ihn die Gnade von oben, der Engel, doch auf, denn das Opfer des Judas ist nicht minder heilsnotwendig als der

Opfergang Jesu." In der Ostkirche hat sich übrigens auch etwas von dieser Erkenntnis erhalten, während für das übrige Christentum Judas eine rein negative Gestalt blieb. Verhängnisvoll wirkte der Name "Judas", meint auch Schalom-Ben-Chorin, weil dieser mit Juden schlechthin identifiziert wurde, obwohl es im Neuen Testament auch positive Judas-Gestalten gibt. Aber nur die Gestalt des Judas Ischariot wurde auf das jüdische Volk als das Judas-Volk projiziert, was verhängnisvolle Folgen in der jüdischen Leidensgeschichte hatte. Judas blieb für das christliche Empfinden der Sohn der Finsternis im Gegensatz zu den Kindern des Lichts. Die Juden wurden insgesamt als die Söhne der Finsternis gesehen.

(Übrigens: An der Kirche von Vezelay in Burgund nimmt Christus den Leichnam des erhängten Judas auf seine Schultern und trägt ihn wie der gute Hirt das verlorene Schaf. "Was gibt dem Künstler das Recht, so frei mit der Überlieferung umzugehen?" heißt es in der Überschrift zu einer Abbildung.)

In der biblischen Welt spielt ebenfalls Ingeborg Drewitz' 1954 verfasstes Hörspiel "Judas Ischariot", das unter dem Titel "Der Mann, der Gott hasst" auch als Theaterstück aufgeführt wurde. Das Thema ließ sie offensichtlich nicht los. Mehr als zwanzig Jahre später, 1978, veröffentlichte sie eine kleine Prosaskizze unter dem Titel "Judas Ischariot", konzipiert als rückblickender Monolog, in dem sie Judas selbst zu Wort kommen lässt, der sich in einer kurzen Szene mit Jesus auseinandersetzt und zugeben muss, das er Jesus nicht begreifen kann, dass dieser höher und größer ist als alle Vernunft. (In: Die Samtvorhänge S.8)

Josef Reding hinterfragt in seiner 1958 veröffentlichten Kurzgeschichte "Wer betet für Judas?" die Verurteilung des Judas und betont, Judas lebt in allen.

Der jiddische Erzähler Schalom Asch (1880 in Polen geboren, 1957 in London gestorben), lebte seit 1906 in Palästina) hat sich dieser Geschichte ebenfalls angenommen, aber auch christliche Gestalten tauchen in seinen Romanen auf: "Der Nazarener", "Der Apostel", "Maria". Von jüdischen Lesern wurden diese Romane vielfach abgelehnt. (Schoeps Lexikon S.78) (Ludger Heid.)

Leo Perutz (1882 in Prag geboren, zog 1899 Wien und 1938 nach Tel Aviv um, gestorben 1957 in Bad Ischl) schrieb "Der Judas Leonardo". Der böhmische Kaufmann Behaim will nach guten Geschäftsabschlüssen auch noch alte Schulden in Mailand eintreiben. Während seines Aufenthalts verliebt er sich in ein junges unschuldiges Mädchen, das er, nachdem er erfahren hat, dass es die Tochter des Schuldners ist, skrupellos benutzt um an sein Geld zu kommen. Leonardo da Vinci arbeitet zu dieser Zeit gerade an der Vollendung seines "Abendmahls", durch Behaims Geschichte, die bald Stadtgespräch ist, hat er das Modell für seinen Judas gefunden. Perutz (1882-1957) hat in seinem letzten Roman, der zuerst 1959 erschien, Spannung mit psychologischer Raffinesse verbunden, kulturgeschichtliche Details mit den alten Themen Geld, Liebe und Verrat. Die Texteingriffe des Herausgebers von 1959 sind getilgt, der vielschichtige, anspruchsvolle Roman erscheint erstmals in der Originalfassung, ausführliches Nachwort.

Unterschiedliche Autoren haben die Judas-Geschichte aufgegriffen, polnische, amerikanische, italienische, spanische (andalusische Novelle) und französische wie Paul Claudel 1936 und Marcel Pagnol 1956.

Allerdings merkte Reinhold Schneider in "Winter in Wien", gegen Paul Claudel gerichtet, an: "Es ist fatal, wenn der Dichter so viel weiß wie Gott, wenn er sich auf das Geheimnis der Geschichte, auf das Mysterium der Fügung versteht."

In all diesen Texten erscheint Judas entweder als Widerstandskämpfer, als Nationalist, Sozialrevolutionär, Miterlöser oder als zweiter Messias.

Max Brod wiederum hat in seinem Roman "Der Meister" (1952) Judas als die Verkörperung des Bösen dargestellt, als nihilistischen Intellektuellen.

Luise Rinser hat in "Mirjam" (1983) als einen Gutgläubigen geschildert, der selber das Opfer eines Verrats wird.

Erich Mühsam verlegt die Geschichte in seinem Drama "Judas" aus dem Jahr 1921 in das Arbeitermilieu. Häufig tritt Judas als Ich-Erzähler auf und rechtfertigt sich. Nicht alle Romane sind gelungen, manche sind auch recht kitschig. Halten wir uns an gelungene Darstellungen.

Aber zuvor noch ein Hinweis auf zwei Romane, in denen Judas als Synonym für die Charakterisierung eines Verräter schlechthin gebraucht wird, schließlich sehen viele in ihm auch den Urvater der Informanten und Spitzel.

Birgit Lahan: "Genosse Judas. Die zwei Leben des Ibrahim Böhme." (Man hatte dem Bürgerrechtsanhänger Stasi-Kontakte nachgewiesen).

Helga Schubert wiederum stellt ihre Dokumentation über Denunziantinnen in Hitler-Deutschland unter das Schlagwort "Judasfrauen." Beide Autorinnen sehen in Judas den Verräter, doch ist hier diese Bezeichnung nicht antijüdisch gemeint.

Und es gibt auch sogenannte Judas-Thriller z.B. "Der Judas-Code" von James Rollins.-

Vierzig Jahre nach Schalom Ben-Chorin greift Walter Jens in seinem Roman "Der Fall Judas" und weitere vierzehn Jahre später in seinem Monolog "Ich, ein Jud. Verteidigungsrede des Judas Ischariot" genau dieselbe Grundidee des Judas auf und und gestaltet sie eindrucksvoll. (Jens: Zeichen des Kreuzes. Vier Monologe, Stuttgart 1994)

Höhepunkt der Judas-Literatur ist zweifellos Jens' Roman "Der Fall Judas". Erzähler dieses - auch vielfach als Theaterstück aufgeführten Romans ist der katholische Kirchenrechtler Ettore Pedronelli, der im Rückblick von einem denkwürdigen Prozess berichtet, den er zwölf Jahre zuvor im Namen des deutschen Franziskaners Berthold geführt hatte: sie hatten den förmlichen Antrag gestellt, Judas solle aufgrund seines Mitwirkens im Heilsplan Gottes seliggesprochen werden.

Lesen ab S.8 ff. bis S.18

In Rom wird tatsächlich daraufhin ein Verfahren eröffnet, Gutachten erstellt, Gegenplädoyers gehalten, das Schlussurteil fällt ohne definitive Entscheidung aus. Pedronelli und Bruder Berthold werden von der römischen Hierarchie kaltgestellt.

Drei Modelle werden genannt: (51, 60) War Jesus ein Opfer des Judas, der ihn arglistig täuschte? Undenkbar! War Judas ein Opfer Jesu, der einen Verräter brauchte? Ebenso undenkbar! Beide Modelle absurd. Oder waren Jesus und Judas gemeinsam Opfer des göttlichen Plans?

Jens bietet mehrere mögliche Interpretationen der Judas-Gestalt an und weist auf deren Grenzen hin: Judas ist hier das Sinnbild für alle Minderheiten, die um ihrer Andersartigkeit willen verfolgt werden.

Für Pedronelli und Bruder Berthold steht fest: Verständlich wird die Geschichte des Judas nur dann, wenn er nicht Verräter Jesu, sondern dessen Überlieferer war, wenn er nicht Feind Jesu war, sondern dessen engster bis zum letzten Kuss bezeugter Freund und Bruder, Miterlöser, bereit, die ihm in Gottes Plan zugedachte Rolle des Verräters zu spielen.

Diese These wird von den römischen Behörden abgelehnt, da sie radikal dem traditionellen Verständnis widerspricht. Lesen S.80 und S.93

Jesus braucht Judas mithin so dringend wie Gott den Teufel. Er dient Jesus in einem abgekarteten Spiel. Ohne ihn gibt es kein Christentum. Aber ohne ihn, die Inkarnation antisemitischer Zuschreibungen, auch kein Pogrom, kein Lager. kein Gas. Was wäre im Falle der Weigerung mitzuspielen geschehen? Ein millionenfaches Ja zum Leben, zur Versöhnung, zum Frieden - zu einem menschlichen Dasein, das nicht mit einem Mord und einem Selbstmord beginnt und in der Blutspur weitergehen muss?

Die Schlussfolgerung liegt nahe, dass der vermeintliche Verrat notwendig war für die Entstehung des Judenhasses. Kein Verrat, kein Judenhass? Kein Holocaust? Judas war nicht das einzige Argument für christlichen Judenhass, aber ein schwerwiegendes.

Jens' Gedankenspiel, meint Petra Hallmayer in der "Süddeutschen" vom 6.4.1999, bleibt am Ende gefangen in den engen Grenzen einer braven Vernunft. Mit dieser aber lässt sich weder der (christlichen) Religion noch etwas so Irrationalem wie dem Antisemitismus beikommen. Walter Jens gibt also auf die oben gestellte Frage eine mögliche, wenn auch nicht erschöpfende Antwort.

Pinchas Lapide hat sich wiederholt mit Judas auseiandergesetzt. In "Judas, wer bist du? Von Kain bis Judas" (hier bietet er ungewohnte Einsichten in Sühne und Schuld) und in "Wer war schuld an Jesu Tod?"

(Pinchas Lapide geb.1922 in Wien, floh aus dem KZ, kämpfte in Palästina in der jüdischen Brigade, nach dem Zusammenbruch des Nazi-Regimes wurde er Schüler Bubers in Frankfurt und wirkte dann als jüdischer Theologe, gestorben 1997): er fordert eine Rehabilitierung des Judas, weist auf die lange Reihe der Judasdeutungen hin: bei Leo Baeck, Martin Buber, Hermann Levin Goldschmidt, David Flusser und andere jüdische Denker und meint, es sei Zeit, dass Judas endlich auch von wohlmeinenden Christen Gerechtigkeit widerfahre - "in den Schulbüchern, auf der Kanzel und im Religionsunterricht." (S.42)

Lange hieß die klassische Antwort der Christen auf die Frage, wer war Schuld am "Gottesmord", kurz und bündig: Die Juden sind schuld! Seit dem von ihnen begangenen Gottesmord sind Juden, hieß es weiter: blind und verstockt. Der Kirchenhistoriker Euseb lässt den ersten christlichen Kaiser Konstantin in seiner Rede vor dem Konzil von Nicäa proklamieren: Von nun an nährt die grausame Legende alle Quellen des christlichen Anti-Judiasmus und scheint die unflätigen Hassausbrüche zu rechtfertigen. (S.95)

Wer imstande war, solch eine unfassbare teuflische Bluttat zu begehen, so folgerten die breiten Massen in ganz Europa, für den waren doch Dinge wie Ritualmord, Brunnenvergiftung, Pestverbreitung und Hostienfrevel ein reines Kinderspiel. (98)

Das religiöse Bild des Juden als "Christusmörder" wurde im 19.Jahrhundert mühelos säkularisiert. Er wurde zum Schacherjuden, Mammonanbeter und zum Wucherer. Schrittweise Verteufelung auf dem Mutterboden eines "christlichen" Antijudaismus.

Lapide: Hättest du doch Simon, David oder Jakob geheißen wer weiß? Vielleicht hätte so mancher selbst ernannte Rächer von Jesu Kreuzestod im Lauf der Jahre sein Mütchen nicht ausgerechnet an den Juden gekühlt."

s.S.99 Jacques Maritain bis 101 S.117.

Ferner sei noch darauf hingewiesen auf:

Uwe Saeger: "Die gehäutete Zeit. Ein Judasbericht".

Uwe Saeger erzählt die bekannte Bibelgeschichte, die mit dem Eintritt Judas' in Jesus' Jüngerschar beginnt und mit dem Verrat endet. Allerdings deutet er sie ebenfalls in seinem Roman um: Jesus, der Judas Gutes tut, braucht ihn als Verräter. Er funktionalisiert ihn, um der eigenen Leidensgeschichte und seiner Lehre Kraft zu verleihen.

Eine aus heutiger Perspektive geschriebene Erzählung, die nicht mehr als den Verrat beschriebe, würde dem Neuen Testament hinterher schreiben. Uwe Saeger, der 1987 den Ingeborg-Bachmann-Preis erhielt, will in seiner Erzählung "Die gehäutete Zeit. Ein Judasbericht" mehr.

Er erzählt die Geschichte von Jesus und seinem Verräter Judas, der wie kein zweiter Jünger geliebt wurde. In Saegers Bericht wirft Jesus Judas kleine Nahrungsbissen zu, die dieser mit geöffnetem Mund empfängt. Judas wird gegeben, und er empfängt die Gabe wie ein Hund. Die empfangene Zuneigung lässt Judas immer fetter werden. Der Herr mästet seinen Verräter, als würde er ihn schlachten wollen, aber er selbst wird schließlich zum Opfer werden. Jesus, der Judas Gutes tut, braucht ihn als Verräter. Jesus, der den Menschen in Liebe zugeneigt ist, verleiht seinen Worten durch das Leiden, das er auf sich nimmt, Gewicht. Beide, Jesus und Judas, verschmelzen im Verlaufe des Berichts zu "Jejudassus".

Uwe Saeger erzählt eine bekannte Geschichte, die mit dem Eintritt Judas' in die Jüngerschar beginnt und mit dem Verrat endet. Er hält sich an die Eckdaten der Geschichte aus dem Neuen Testament, deutet sie aber, indem er nach Gründen für den Verrat fragt. Nach Saegers Lesart ist Judas' Verrat Teil eines größeren Plans.

Der Heilsplan, den er der Geschichte unterlegt, hat drei entscheidende Ebenen, die ineinander verwoben sind: Jesus braucht für seine Geschichte den Leidensaspekt, den Judas garantiert. Doch auch Jesus hat eine bestimmte Funktion in einem Plan zu erfüllen. Er trifft sich heimlich mit Männern, die mit ihm und seiner Lehre bestimmte Absichten verfolgen. Insofern ist der Herr in seinem Tun zwar Herr seiner selbst und zugleich auch nicht. Und schließlich sind alle Beteiligten Teil eines göttlichen Planes, was die Frage nach der Willens- und Entscheidungsfreiheit für den Einzelnen aufwirft.

"Prometheus Ende" heißt eine Erzählung, die Uwe Saeger 1998 vorlegte. Das darin aufgerufene Thema von der Selbstverwirklichung greift er nun, zehn Jahre später, in "Die gehäutete Zeit" erneut auf. Uwe Saeger hinterfragt in dem neu erschienenen Bericht die Möglichkeiten, die der Einzelne in der Geschichte hat. Prometheischer Anspruch und die Niederungen des Verrats sind der Spielraum, der sich zwischen Wiege und Grube eröffnet. Saeger vermisst diesen Raum auf beeindruckende Weise und zeigt ihn in all seiner beklemmenden Enge.

Gedichte über Judas

Etliche Autoren verfassten auch Gedichte über Judas, zum Beispiel

Conrad Ferdinand Meyer, Henrik Ibsen und Josef Weinheber. In seinem Gedicht "Judaskuss" heißt es. "Ihr seht nur das verfluchte Geld, das ich genommen hab." Er habe es getan, damit die Schrift erfüllt werde, und bei Wolf Biermann liest man die Verse: "Wahr ist, dass besagter Verräter seinen Chef/Auf dessen eigenen Wunsch hin hochgehn ließ./Er verriet den, der verraten werden wollte."

Bei Peter Maiwald erscheint Judas als lyrisches Ich, das zwei verschiedene Versionen zur Erhellung seiner Person angibt: Judas, der Geldgierige, und Judas, der politische Eiferer. Diese Versionen werden hier nebeneinandergestellt, um die Fraglichkeit der klassischen Lesarten und Stereotypen aufscheinen zu lassen.

Fast alle modernen Judas-Bearbeitungen in der Literatur stimmen in der Tendenz überein: Der Fall Judas bedarf der Revision, und am Ende kann nur ein Urteil stehen, wie verschieden es im Einzelfall auch begründet sein mag: Freispruch für Judas. Wenn aber Judas freigesprochen wird, müssen auch Jesus und seine Heilsbedeutung für die Menschheit noch einmal in einem neuen Licht betrachtet werden. Denn alle Judas-Geschichten weisen auf einen zurück, der im Schatten bleibt, aber stets präsent ist und um dessen Bedeutung für heute in all diesen Texten gerungen wird: auf Jesus selbst.

Judas taucht in der Musik auf bei Händel, Bach u.a, in der Malerei, in Fresken an Kirchen, z.B. am Naumburger Dom, Arenakapelle von Padua im Fresco von Giotto, in der Malerei: Otto Pankok: Der Verrat des Judas,

Urs Graf, Straßburg 1503. Verrat des Judas (Holzschnitt)

Anthonis van Dyck: Der Judaskuss um 1620,

Leonardo da Vinci:Das letzte Abendmahl.

6.Judasevangelium

Vor mehr als dreißig Jahren wurde in Ägypten das sogenannte lange verschollene Judasevangelium gefunden. Doch erst 2006 sind die dreizehn geretteten Seiten des Fragments übersetzt und analysiert worden. Das neu gefundene Evangelium legt nahe, dass Judas keineswegs ein Verräter war.

Hier sieht Jesus in Judas einen Helfer. Judas hilft Jesus seine Mission zu erfüllen. Zugleich warnt ihn Jesus auch:"Du wirst verflucht werden von den Jüngern und den anderen Menschen." Judas als Vollender des göttlichen Plans auch hier.

Das Judasevangelium soll um 150 von einem Unbekannten verfasst worden sein. Der griechische Kirchenvater Irenäus erwähnt es im Zusammenhang mit einer gnostischen Gruppierung, die neben dem Brudermörder aus den ersten Kapiteln der Bibel auch den Verräter Judas verehrte. Es ist das Jahr 170 nach Christus. «Adversus haereses» lautet der Titel von Irenäus' Streitschrift: Gegen die Ketzer. Darin brandmarkt der Theologe einen besonderen Teufelsschrieb: das Evangelium des Judas. Er hat das Buch in der christlichen Gemeinde von Gallien entdeckt, und entsetzt stellt er fest, welche Legende des zwölften Apostels da herumgeht: Judas, der Verräter, erscheint als Held.

Ohne Verrat keine Erlösung, ist die Botschaft. Judas erscheint hier in einem völlig neuen Licht entgegen der Bibeldarstellung.

Aber Irenäus kritisiert das Dokument als ein Dokument der Gnosis, deren Anhänger glaubten, die Welt sei ein Hort des Bösen, dem es zu entrinnen gilt.

Berthold Seewald, ein Publizist von heute, sieht im Judas-Evangelium einen neuen Beleg für die Buntheit des Christentums vor seinem Aufstieg zur Weltreligion. Die spätere Hochkirche aber habe die Gnostiker und ihre Lehren verdammt und in den Untergrund getrieben.

Der Vatikan und die offizielle christlichen Kirchen lehnen auch heute das Judas-Evangelium ab.

Israelische Zeitung wie "Maariv" und Haaretz" begrüßten dagegen die Entdeckung des Judas-Evangeliums, weil hier eine neue Version des Verrats an Jesus geboten wird. Das Massenblatt "Jedioth" jubelt, "wir haben Jesus nicht verraten", immerhin hat sich auf die neutestamentliche Darstellung des Judas der christliche Antisemitismus gegründet. Antijüdische Stereotype von Heimtücke bis Habgier haben hier ihre Wurzeln.

Doch enttäuscht berichtet "Maariv" von der Reaktion aus Rom: "Vatikan hartnäckig; Judas nicht rehabilitiert." Erst nach dieser Schlussfolgerung erinnert die Zeitung an eine andere Schrift: "Nostra aetate", die Erklärung des Zweiten Vatikanischen Konzils, die wenn schon nicht Judas, zumindest die Juden vom Jesusmord freispricht.

Aber das Verhalten des jetzigen Papstes Benedikt XVI. ist doch in dieser Hinsicht recht zweideutig. (Verhalten in Auschwitz, mehr oder weniger hat er das 2.Vatikanische Konzil aufgeweicht, die Aufhebung des Exkomunikation der Lefebvre-Anhänger und anderes mehr.) Der Antijudaismus ist noch keineswegs verschwunden genauso wenig wie der Antisemitismus.

Die Princeton-Professorin Elaine Pagels kommt in ihrem mit Karen L.King gemeinsam verfassten Buch "Judas und der Kampf ums wahre Christentum" zu einem anderen positiven Ergebnis. Das Judas-Evangelium, meint sie, hat ein höheres Menschenbild als das traditionelle Christentum vor Augen. Der Weg ins Himmelreich führt danach nicht über Glauben, Frömmigkeit und göttliche Gnade, sondern über Erkenntnis und geistiges Wachstum. Es bietet den Vorteil, ein Menschenbild mit gleichsam unendlichen Aufstiegsmöglichkeiten vorzustellen, unabhängig von theologischen Begriffen wie Sünde, Gnade und Glaube, die nach Nietzsche nur dazu geschaffen waren, den Menschengeist klein zu halten. Denn Nietzsche hat zeitlebens für die Einsicht gekämpft, das vom Menschen bislang nicht hoch genug gedacht wurde, und daran sei das dogmatische Christentum schuld. Aber, so die amerikanische Autorin, aus dem Judas-Evangelium können wir herauslesen, dass Christentum nicht immer Erniedrigung vor Gott bedeuten muss.

Kurt Marti;

"Abendland"

schöner Judas

da schwerblütig nun

und maßlos

die sonne

ihren untergang feiert

berührst du mein herz

und ich denke dir nach

ach was war

dein EINER verrat

gegen die VIELEN

der christen der kirchen

die dich verfluchen?

ich denke dir nach

und deiner

tödlichen trauer

die uns beschämt.

7.Resümee:

Für die Judasgeschichte gibt es verschiedene Deutungsmöglichkeiten, die wiederum etliche Fragen aufwerfen:

Hat Judas nach eigenem Ermessen und freiem Entschluss Jesus verraten?

Oder war er "die Kraft, die stets das Böse will und stets das Gute schafft"?

Ist tatsächlich in ihn "der Satan gefahren", wie es in der Bibel heißt? War er ein Werkzeug des Teufels?

Oder war er ein Werkzeug Gottes?

Oder trieb er, salopp ausgedrückt, mit Jesus ein abgekartertes Spiel?

Die Judasfigur ist für viele auch deshalb so faszinierend, weil sie häufig als Inbegriff des Bösen galt oder noch immer gilt.

Gleich für welche Deutungsmöglichkeit man sich auch entscheidet oder unter welchem Aspekt man die Judasgeschichte auch betrachtet, es bleibt stets ein unbefriedigender Rest, zumindest steht bei allen Deutungen und Sichtweisen die Frage im Raum, warum musste Judas oder warum hat Judas Jesus verraten? Das war doch eigentlich nicht nötig, immerhin ist Jesus nie anonym aufgetreten, immer öffentlich, auf Plätzen und an Orten, die jedermann zugänglich waren, sein Anblick und Aussehen waren bekannt genug. Die Häscher hätten ihn auch ohne Judas' Verrat finden können. Ist die Erlösung der Menschheit vom Verrat eines einzelnen abhängig?

Man kann die oben gestellten Fragen auf eine andere, eine höhere Ebene heben und sich überlegen: Wo, wann und inwieweit hat Gott seine Hand mit im Spiel bei dem, was hier auf Erden geschieht? Geschieht alles nach seinem Willen?

Wie weit reicht seine Wirkung? Wie langmütig ist seine Geduld? Denkt man dabei an Auschwitz, kann einem dabei ganz schwindelig werden. Und: Wo fangen Freiheit und Verantwortung des Menschen an? Wie hängen menschliche Freiheit und göttlicher Wille zusammen? Viele Autoren betonen die Werkzeughaftigkeit von Judas. Sind auch wir nur Werkzeuge in der Hand Gottes? Vertraut man der Hirnforschung, dann wäre der Glaube an die menschliche Freiheit nur ein frommer Wahn.

Halten wir uns lieber an Kant, der gemeint hat, dass man die Freiheit zwar nicht beweisen könne, gleichwohl sei sie wie die Idee der Unsterblichkeit und die Idee Gottes ein Postulat, eine Denknotwendigkeit, eine unbedingte sittliche Forderung. Zumindest erreiche ich mehr, wenn ich an meine Freiheit glaube, daran, dass ich über einen bestimmten Spielraum verfüge, als wenn ich der Meinung bin, ich sei eine Marionette in der Hand eines Mächtigeren.

Zumindest kann man sich mit Heidegger sagen: Dass ich bin, verdanke ich mir nicht selbst, aber mit Camus kann man sich klar machen, von einem bestimmten Zeitpunkt an ist man für sein Handeln veranwortlich, wenn man voll und ganz im Besitz seiner seelischen und geistigen Kräfte ist. Dann hat man einen bestimmten Spiel- und Entscheidungsraum, und dann ist man für sein Tun und seine Reaktionen verantwortlich.

Aber: der Mensch ist ein unvollkommenes Wesen, erkenntnismäßig und moralisch, Gutes und Böses haben an ihm Anteil. Wenn er frei handelt, kann er auch schuldig werden, oft ist es einerlei, wie er sich entscheidet, er wird schuldig allemal, das wussten schon die Alten Griechen. Kein menschliches Leben in Freiheit ohne Schuld, und genau an diesem Punkt zeigt sich die wahre menschliche Größe, wenn nämlich der Mensch, wenn er schuldig geworden ist, sich nicht in fadenscheinige Ausreden flüchtet und die Schuld wegdiskutiert, sondern die Schuld auf sich nimmt, in sich geht, Reue und Buße tut, um es biblisch auszudrücken, wenn er umkehrt, wenn er, um es modern zu sagen, seine Schuld abarbeitet, aufarbeitet und bewältigt. Das sind Vorkommnisse und Ereignisse, an denen er wächst und reift zum wahren Menschentum.

Zurück noch einmal zu Judas. Er hat Jesus verraten und ist schuldig geworden. Aber wenn er sich Gottes und Jesu Willen widersetzt hätte, wäre er auch schuldig geworden.

Er hat seinen Verrat und die Verachtung seiner Umwelt nicht ertragen und Selbstmord begangen. Aber muss dieser das letzte Wort sein? Sind nicht Vergebung, Barmherzigkeit, Gnade gerade im Christentum wichtige Schlüsselbegriffe ? Wird doch hier die Versöhnung zwischen Gott und Mensch, auch zwischen Menschen untereinander hervorgehoben? Dem Neuen Testament zufolge hat sich Jesus Christus geopfert, um die Sünden der Welt auf sich zu nehmen (1. Johannesbrief 2,2) und er vergibt seinen Kreuzigern im Angesicht des eigenen Todes. Hat er also daher auch den Verrat des Judas auf sich genommen und ihm folglich auch vergeben, dass er seinen, nämlich Jesu Willen, erfüllt hat?

Ist es nicht an der Zeit, über Judas nachsichtiger und barmherziger zu urteilen und weniger rigoros als es oft noch geschieht?

Bibliographie:

Dem Text liegt ein Vortrag zugrunde, den ich am 30.März 2009 in der Arnsberger Akademie gehalten habe und an dem ich für das Internet im wesentlichen nicht viel daran herumgefeilt und korrigiert habe.


. . auf uhomann@UrsulaHomann.de Impressum Inhaltsverzeichnis