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Ausbildung und erste Liebe

Nach der Schulzeit, zwischen 1911 und 1928, verließ Gertrud Kolmar Berlin von Zeit zu Zeit für kürzere Ausbildungs- und Studienreisen, lernte mehrere Sprachen, machte das Examen als Sprachlehrerin in Französisch und Russisch und arbeitete als Erzieherin in Leipzig, Hamburg und Dijon. Während des Ersten Weltkriegs war sie Dolmetscherin im Gefangenenlager Döberitz und erlebte, um 1915 oder 1916 herum, eine unglückliche Liebe zu dem Offizier Karl Jodel. Hilde Wenzel schreibt über diese Zeit: "Zu Anfang des Ersten Weltkrieges begegnete Gertrud dem Menschen, dem sie aus der ganzen Unbedingtheit ihres heißen Herzens alles gab, um dann, jung und unerfahren, wie sie war, bitter enttäuscht zu werden." Das Kind, das Gertrud Kolmar aus dieser Beziehung erwartete, musste sie auf Drängen der Eltern abtreiben lassen. Sie wollte nicht, so Hilde Wenzel, "das Ansehen ihrer Eltern und damit womöglich die erfolgreiche Karriere ihres Vaters aufs Spiel setzen." Allem Anschein nach hatte Gertrud Kolmar ein ausgeprägtes Pflichtgefühl und Traditionsbewusstsein. Aber bis in ihre letzten Lebensjahre hinein litt sie an der ungestillten Liebe und an der ihr aufgezwungenen Abtreibung. Sogar einen Selbstmordversuch soll sie unternommen haben, wahrscheinlich Ende 1916. In ihrer Dichtung hat sie das Thema der Verlassenen und die Tragik der unerfüllten Mutterschaft, die Sehnsucht nach dem Kind, immer wieder neu gestaltet. Gerade die Liebe zum ungeborenen Kind ist eines ihrer großen Themen. Noch die Tagebuchseiten von 1936 lassen erkennen, wie stark im Fühlen und Denken Gertrud Kolmars die Erinnerung an ihre frühe Liebesbegegnung mit dem Offizier Karl Jodel geblieben ist. Ihm, dem Vater ihres nicht geborenen Kindes widmete sie später die Gedichte "Wal", "Fischkönig", "Die Verlassene", "Liebe" und einige andere Gedichte.

"Wahn /

Die Nacht steht draußen und die Wiege leer. /

Und die sie schaukelt, eine bleiche Frau. /

Trägt Strähnenhaare, schwarz und zäh wie Teer. /

Vor ihrem Herzen ballt sich Grau zu Grau:

Der Tisch, das Bett, der Schrank und was da ist. /

Der Tag, der Wald, die Liebe, was da war, /

Das raschelt leicht und trocken wie Genist /

Entflognen Spötters vom vergangnen Jahr.

Der Wiegebogen taumelt her und hin; /

Sie klammert ihn mit nacktem Fuß und haucht /

Ein Schlummerlied, das müde, ohne Sinn /

Und ohne Hall in Schattenwasser taucht.

Sie hegt ein Kindlein, das vielleicht schon starb, /

Und nickt dem Kindlein, das sie nie gebar; /

So lieblich war es, weiß und nelkenfarb, /

Mit Silbergrannen dicht im Roggenhaar.

Es hat mit so viel Freundlichkeit und Licht /

Ihr einsam armes Leben ganz verwirrt; /

Sie schaut es immer an und sieht es nicht /

Und zittert, wenn der barsche Frost erklirrt:

Am Fenster rüttelt, wenn der Wächter bellt, /

Den gelben Mond ein fernes Käuzchen höhnt, /

Beschwichtigt murmelnd ihre kleine Welt /

Und rührt die Klapper an, die beinern tönt...

Die Nacht steht drinnen und die Wiege leer, /

Und die sie hütet, eine irre Frau, /

Löst Seidenhaare, wallend wie das Meer /

Und duftend dunkel hyazinthenblau."

(Das Lyrische Werk S.259)

"Opfergang

Ich wusste, dass auch ich geboren bin. /

Es ist ein Buch, da steht mein Name drin.

Ich war mir selbst zu eigen zwanzig Jahr, /

Trug schwer an mir; da fand ich den Altar

Und hab' auf seinen Stufen scheu mein Ich /

Um eine Güte Gottes geschenkt: für dich.

Und legte meines Ichseins Glück dazu /

Und wurde reich, da nichts mir blieb. Nur du. /

(Aus dem Zyklus "In memoriam 1918"(s.4/11)

Im Opfer und in der Selbstaufgabe erlebt die Leidgeprüfte die höchste Bindung an die als machtvoll empfundene Figur des Geliebten.

"Er war viel ärmer, denn er suchte Liebe, /

Ich war viel reicher, denn ich hatte Glück, /

Drum ward, was ich ihm schenkte, alles Liebe, /

Und alles, was er raubte, ward mir Glück.

Und was mir Freude gab, das war sein Eigen, /

Und wo er weilt, da soll mir Heimat sein, /

Und wenn er redet, müssen Menschen schweigen. /

Und wenn er schweigt - dann redet Gott allein."

(Das Lyrische Werk S.354)

"Soldatenmädchen

Denn so ist dein und mein Geschick: /

Dir schuf der Schmied die Waffen; /

Den ros'gen Mund, den dunklen Blick, /

Die hat mir Gott geschaffen. /

Der Schuster hat die Schuh' gemacht, /

Die deinen Weg betraten, /

Vom Schneider hab ich meine Tracht, /

Mein Kindlein vom Soldaten."

"Was war ich? Kleines Weiberwesen, Unrast und Beschwerde, /

Das Zündholz, das sich einer strich.- /

Die Mutter bin ich; wenn ich kreise, tanzt auch Gottes Erde /

Mit mir, in mir, um mich."

Demut und Bereitschaft zum Opfer, zum Opfer des eigenen Ichs werden in ihrem Werk immer wieder beschworen.

Bis 1926 arbeitete Gertrud Kolmar als Erzieherin und Sprachlehrerin in mehreren Berliner Privathäusern, aushilfsweise auch bei taubstummen Kindern, von Dezember 1926 bis Mitte 1927 in einer als unangenehm empfundenen Stellung in Hamburg-Harvestehude.


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