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Roman eines einfachen Mannes

Die Hiob-Deutung Joseph Roths

Einleitung:

Seit jeher gehören Leid, Katastrophen, Krankheit und Tod zu den Erfahrungen, die Menschen wie einst Hiob immer wieder fragen lassen: Wie kann Gott diese Übel zulassen? Warum müssen selbst Kinder und Unschuldige leiden? Jene seit Hiob oft quälende und vergebliche Suche nach dem Warum von Leid und Tod ist trotz Aufklärung und Mündigkeit bis heute aktuell und virulent geblieben.

Und so ist es sicher auch kein Wunder, dass die Hiobsgeschichte in die Literatur vielfältigen Eingang fand. Wie kaum ein anderes biblisches Buch hat sie Philosophen, Theologen und Literaten zu Reflexionen und eigenen Schöpfungen inspiriert.

Gerade im zu Ende gegangenen 20.Jahrhundert häuften sich die literarischen Auseinandersetzungen mit Hiob, dem Sinnbild für einen vom Schicksal geschlagenen Menschen. Insbesondere jüdische Dichter griffen auf Hiob zurück, um anhand seines Schicksals die Ungeheuerlichkeiten, die Juden immer wieder, vor allem aber im 20.Jahrhundert, zu erdulden und zu erleiden hatten, zur Sprache zu bringen.

Stefan Zweig meinte sogar, das jüdische Volk sei der "Hiob unter den Völkern." Auch Margarete Susman deutete 1946 das Hiob-Schicksal als Symbol für die Leidensgeschichte der Juden.

Höhepunkt der epischen Hiobrezeption ist zweifellos Josef Roths "Hiob. Roman eines einfachen Mannes" aus dem Jahr 1930. Josef Roth(1894-1939) erzählt hier in einem sehr farbigen und "poetischen legendenhaften Tonfall" (Kesten) die Geschichte eines modernen Hiob: Der in Galizien lebende jüdische Lehrer Mendel Singer wandert nach Amerika aus, und dort trifft ihn das Unglück in seinen Kindern hart, so dass er sich von Gott abwendet. Aber durch die wunderbare Heilung eines Sohnes wird er schließlich zu Gott zurückgeführt.

Wer war Joseph Roth?

Doch zunächst eine kurze Vorstellung des Schriftstellers Moses Joseph Roth. Das Licht der Welt erblickte er vor mehr als hundert Jahren am 2. September 1894 in Brody, einer mittelgroßen Stadt im damals österreichischen Galizien. Wer war er? Ein Poet, ein Journalist und wie alle Juden ein Opfer des Dritten Reiches, außerdem ein stets von neuem enttäuschter Moralist, ein Augenzeuge seiner Zeit, rastlos, empfindsam und aggressiv zugleich, im Grunde seines Herzens ein Träumer und Menschenfreund, verletzlich wie ein Kind, lebensuntüchtig und anfällig für Depressionen, "ein Spezialist für verlorene Menschen", meinte einmal sein Freund Hermann Kesten.

Ursprünglich war Joseph Roth ein revolutionär gesinnter Romancier und liebäugelte für kurze Zeit mit dem Sozialismus. In den letzten Lebensjahren neigte er dem Katholizismus zu, ohne zu konvertieren. "Christus liebte er um der Liebe willen, Jehova um der Gerechtigkeit willen, die amerikanische und Französische Revolution um der Befreiung der Armen willen", behauptete Kesten. Widersprüchlich wie sein Wesen, sind auch die Aussagen seiner Freunde über ihn gewesen. "Roth war schwermütig", sagen die einen. "Er war leichtlebig", behaupten die anderen." "Er liebte das Militär", heißt es weiter und: "Er hasste das Militär", "er war Leutnant in der k.und k.Armee", "er war ein Sozialist", "er war ein Monarchist", "er war ein Glaubensjude", "er war ein eifriger Katholik". Von sich selbst sagte er, er sei "böse, besoffen, aber gescheit."

Geprägt wurde Roth in früher Jugend durch seinen jüdischen Großvater Jechiel Grübel und sein Geburtsland Galizien. Seinen Vater, der Roths Mutter schon vor der Geburt des Sohnes verlassen hatte, hat er nie kennen gelernt. Er war, so schrieb Roth, "ein Österreicher vom Schlage der Schlawiner". Der Vater starb, als sein Sohn sechzehn Jahre alt war, "im Wahnsinn". Ein einschneidendes Ereignis in Roths Leben war in den zwanziger Jahren die geistige Erkrankung seiner Frau Friedl Reichler. Die Ärzte diagnostizierten Schizophrenie und wiesen sie in ein Sanatorium ein. Im Juli 1940, ein Jahr nach Roths Tod, wurde sie von den Nazis als Geisteskranke ermordet.

Wie viele Juden hat sich Roth zeitlebens mit dem Judentum und dessen Verfolgungsgeschichte auseinander gesetzt. Dabei hat er das orthodoxe Ostjudentum, das jede Assimilation ablehnt, stark idealisiert. Das liberale und national denkende jüdische Bürgertum dagegen beschuldigte er, an der eigenen Katastrophe mitgewirkt zu haben. Am Tag von Hitlers Machtübernahme verließ der österreichische Schriftsteller Joseph Roth Deutschland. Zufluchtsort war Paris.

Roth war verzweifelt. Vor allem schockierte ihn die Gleichgültigkeit der europäischen Öffentlichkeit gegenüber der Judenverfolgung. "Die Hölle regiert. Wir haben alle die Welt überschätzt", schreibt er an Stefan Zweig."Ich gebe keinen Heller mehr für unser Leben. Es ist gelungen, die Barbarei regieren zu lassen." Trotz aller Schwermut stieg Roths Schaffenskurve noch einmal an. Er schrieb etliche Bücher. Aber er fängt auch wieder an zu trinken. Im Café Tournon verbringt der heimatlos Gewordene die meiste Zeit. Er gerät in materielle Not und verfällt zusehends.

Am 23.Mai 1939 bricht Roth bei der Nachricht von Ernst Tollers Selbstmord in seinem Stammcafé zusammen. Vier Tage später stirbt er und wird auf dem Vorstadtfriedhof Thiais begraben. Als am Grab vom treuen Kämpfer der Monarchie die Rede ist, protestieren die Kommunisten. Als der katholische Priester sein Ritual beginnt, murren die Ostjuden. Ein Freund Roths verzichtet darauf, das Kaddisch zu sprechen. Selbst am Grab gibt es Streit um die Einordnung des Einzelgängers.

Dreizehn Romane, acht Erzählungen und hunderte von Reisebildern, Feuilletons, Rezensionen und Glossen hat Roth veröffentlicht. Begonnen hat er 1923 mit dem politischen Kolportageroman "Das Spinnennetz". Ein Jahr darauf erschienen "Hotel Savoy" und "Die Rebellion". In dem zuletzt genannten Roman hat der Dichter zum ersten Mal ein Hiob-Schicksal gestaltet: Der obrigkeitsgläubige Andreas Pum verliert seine bescheidene kleinbürgerliche Existenzgrundlage, gerät in die Gewalt des Polizei- und Justizapparates, lehnt sich gegen die Sinnlosigkeit seines Leidens und die Ungerechtigkeit der Obrigkeit, die er mit Gott identifiziert, auf und beendet sein trostloses Leben als Aufseher in einer Herrentoilette. Drei Jahre später schreibt Roth seinen viel beachteten Essay "Juden auf Wanderschaft". Es folgen "Hiob"(1930), "Radetzkymarsch"(1932), "Tarabas. Ein Gast auf dieser Erde" (1934), "Beichte eines Mörders, erzählt in einer Nacht"(1936), "Das falsche Gewicht. Die Geschichte eines Eichmeisters"(1937), "Die Kapuzinergruft"(1938) und die Geschichte von der 1002.Nacht"(1939). Postum wurden "Die Legende vom heiligen Trinker" und "Die Eiche Goethes in Buchenwald" herausgegeben.

Seine Bücher sind "eine sonderbare Mischung aus Naivität und Skepsis,..aus östlicher Phantasie und westlicher Paradoxie, aus christlicher Demut und jüdischem Zweifel", befand einmal der Kritikerpapst Marcel Reich-Ranicki in einer Rezension. In Roths letzten Werken wirken die Helden monomanisch, bindungsunfähig und entwurzelt wie ihr Verfasser.

Das erfolgreichste Buch war und blieb jedoch "Hiob" mit dem Untertitel: "Roman eines einfachen Mannes". In ihm (das sei hier nur vorausgeschickt) spiegelt sich die Urgestalt des jüdischen Volkes und in gewissen Momenten auch Roths eigenes Leben und eigene Befindlichkeit. Dieser Roman gewann, wie sein Biograph Helmuth Nürnberger anmerkt, "die Seelen".

Inhalt des Romans

Der Roman spielt Anfang des 20.Jahrhunderts im jiddischen Schtetl Zuchnow, in Südwest-Russland. Die Eheleute Mendel und Deborah Singer führen ein karges, aber wie es auf den ersten Blick scheint, zufriedenes Leben, nur Frau Deborah ist hin und wieder etwas missmutig und seufzt dann vor sich hin. Im Vergleich zu seiner Frau wirkt Mendel eher in sich ruhend und geschlossen. Das Unglück beginnt, als das 4.Kind geboren wird, Menuchim. Er ist Epileptiker oder wie es auch heißt, ein Krüppel. Ärztliche Hilfe lehnen die Eltern ab, dafür sucht Deborah Hilfe beim Rabbi. Der prophezeit ihr, das Kind würde eines Tages gesund, sie solle nur Geduld haben. Beide Eheleute sind fromm, Mendel noch mehr als seine Frau. Die Liebe ist zwischen beiden allmählich erloschen, die Geschwister versuchen sogar, den verkrüppelten Bruder umzubringen. Die Welt der Ostjuden, so wie Roth sie schildert, wirkt trostlos und hat mit der oft besungenen Schtetl-Romantik nicht viel zu tun, mit der wir so gern das Ostjudentum verklären. Es liegt sehr viel Melancholie über der ganzen Geschichte und über dieser für uns doch sehr fremden und fernen Welt

Als die Kinder größer und die Eltern älter werden, nehmen die Alltagssorgen zu, die beiden älteren Jungen, Jonas und Schemarjah, sind gesund und sollen zum Militär, das dem Zaren unterstellt ist - zum Entsetzen der Eltern werden sie auch angenommen. Das Dilemma besteht darin, dass sie nach dem Gesetz zu den Soldaten sollen und nach der Tradition ihrer Väter sich vor dem Dienst retten müssen, denn ein Jude kann nicht ungestraft einem anderen Gott dienen. Zudem wurden Juden im Soldatendienst häufig zur Taufe gezwungen. Der Soldatendienst kam mithin für einen Juden nicht selten einem Abfall vom Glauben gleich.

Deborah macht ihrem Mann Vorwürfe, weil er untätig ist, sich passiv verhält und sich nicht für die Familie einsetzt. Sie selbst ruft Himmel und Hölle zur Hilfe. "Sie pocht an hundert Gräber, an hundert Türen des Paradieses." Ihrem Mann hält sie vor: "Der Mensch muss sich zu helfen suchen, und Gott wird ihm helfen. So steht es geschrieben; Mendel! Immer weißt du die falschen Sätze auswendig."

Gegen ihren Mann findet Deborah oft heftige Widerworte, doch wirkt sie keineswegs so unsympathisch wie die Frau des biblischen Hiob.

Mendel wiederum fühlt sich in seinem Selbstbewusstsein beschädigt. Die Entfremdung zwischen beiden nimmt zu. Deborah rafft alles Ersparte zusammen, um die Söhne freizubekommen, aber das Geld reicht nur für einen, Jonas will ohnehin zum Militär, wie sich bald herausstellt. Der andere kann fliehen mit Hilfe von Fluchthelfern, die seine Mutter bezahlt - er flieht nach Amerika, wo er es tatsächlich zu etwas bringt. Zur Familie gehört noch eine Tochter, Mirjam, die, als sie flügge zu werden beginnt, sich mit Kosaken herumtreibt. Sie ist attraktiv und geradezu erotoman. Für Mendel bricht eine Welt zusammen, als er dies bemerkt, denn Kosaken sind "Erzfeinde" der Juden und ausgerechnet mit einem von ihnen begeht Mirjam, nach seiner Auffassung, Verrat an den moralischen und religiösen Grundsätzen des Judentums. Eines Tages kommt tatsächlich ein Brief aus Amerika, überbracht von einem amerikanischen Freund. Er überreicht ihnen außerdem zehn Dollar. Die Familie beschließt, nach Amerika zu fahren. Mendel glaubt, er könne auf diese Weise, Mirjam davon abhalten, auf die schiefe Bahn zu kommen. Allerdings muss Menuchim wegen seiner Behinderung zum großen Leidwesen seiner Eltern zurückbleiben.

Doch bevor wir die Familie nach Amerika begleiten, betrachten wir erst einmal die beiden Hauptpersonen, Mendel und Deborah, noch etwas genauer:

Von Mendel Singer heißt es, als viele vor der Pest fliehen, er, "der Gerechte, floh vor keiner Strafe Gottes." Er war, so liest man an einer Stelle, "von schlichter Frömmigkeit". Er ist voll Vertrauen auf Gott und meint, man solle sein Schicksal tragen. Aber er verbindet mit Gott in erster Linie die Merkmale von Gerechtigkeit und Bestrafung, weniger die Attribute von Erbarmen, Güte und Liebe.

Deborah wiederum "glaubte, wie es geschrieben stand, dass Gottes Licht in den Dämmernissen aufleuchtete und seine Güte das Schwarze erhelle." Aber ihr und auch Schemarjah ist der Gedanke nicht fremd, dass der Mensch sein Schicksal mit formt. Sie handelt, während sich ihr Mann weitgehend passiv verhält.

Mendel beginnt allmählich zu glauben, dass Gott sie gestraft habe. "Die Armen sind ohnmächtig", sagt er, "Gott wirft ihnen keine goldenen Steine vom Himmel". "Er durchforscht sein Gehirn nach einer Sünde", findet aber keine, zumindest keine schwere. Er ist einsam, furchtsam und demütig, nicht nur vor Gott, und lässt sich demütigen, vor allem von Menschen auf Behörden. Er verkörpert zunächst ganz den demütigen Dulder Hiob.

Roth beschreibt in diesem Zusammenhang eine kleine Szene, die wie eine Utopie wirkt, von der wir heute noch immer weit entfernt sind trotz mannigfaltiger Bemühungen und Initiativen: Mendel Singer kehrt vom Amt zurück, auf dem er sein Auswanderungsersuchen gestellt hatte, und verbringt mit dem Bauer Sameschkin die Nacht am Straßenrand auf der nackten Erde. Mendel betrachtet die Natur und denkt: "All das hat der Herr in sieben Tagen geschaffen. Und wenn ein Jude nach Amerika fahren will, braucht er Jahre!"

- (Hier wird auf einen alten jiddischen Witz angespielt: Ein vornehmer Herr bestellt bei einem ostjüdischen Schneider einen Anzug. Es dauert lange Zeit, bis der Anzug fertig ist, aber er ist tadellos geworden, an ihm gibt es nichts auszusetzen. Als der Auftrageber den Anzug abholt, ist er mit der Ausführung wohl zufrieden, bemängelt aber die Zeitdauer der Fertigstellung, die der Anzug gebraucht hat, und weist darauf hin, dass Gott die Welt immerhin in nur sieben Tagen geschaffen habe. Darauf entgegnet der Schneider: "Ja, dann sehen Sie sich mal die Welt an und vergleichen ihre Ausführung mit der des Anzugs, an dem gibt es nichts auszusetzen, aber an der Welt. Oh je") -

Kurz darauf schmiegt sich Mendel an den Bauern und weint: "Der Bauer drückt seine Fäuste gegen die Augen, denn er fühlt, dass auch er weinen würde. Dann legt er einen Arm um die dünnen Schultern Mendels und sagt leise:" Schlaf, lieber Jude, schlaf dich aus." Eine rührende Szene, die Versöhnung andeutet, zwischen den Menschen und den verschiedenen Bevölkerungsgruppen.

Mendel hofft bis zum Schluss, dass Gott ein Wunder tut, damit sie den kranken Sohn mitnehmen können. Hoffnung auf Wunder spielen in diesem Buch eine große Rolle, aber diese erfüllt sich lange Zeit nicht.

Mendel ist noch immer fest davon überzeugt, dass Gott die Gebete frommer Juden erhört, "wenn wir nichts Unrechtes tun. Wenn wir aber Unrechtes tun, kann er uns strafen." Aber Menuchims Zustand ändert sich nicht, und so fahren die Eltern mit Mirjam, schweren Herzens nach Amerika. Deborah ist im Grunde völlig verzweifelt. - Es gelingt Roth sehr gut, diese Verzweiflung eindringlich darzustellen. - Sie kommen nach Amerika, und im Augenblick der Ankunft hat Mendel das Gefühl, sich selbst abhanden gekommen zu sein. Isolation, Unvertrautheit, Heimatlosigkeit klingen hier besonders stark an.

Nach einigen Monaten jedoch fühlt sich die Familie in Amerika, im jüdischen Viertel von New York, wie zu Hause, und man fragt als ungeduldiger Leser, warum dieser Mendel ein Hiob sein soll, denn allzu viel Schlimmes ist ja, bei oberflächlicher Betrachtungsweise, trotz allem noch nicht geschehen, obwohl Hiobs alias Mendels Schicksal hier im Grunde schon mit der Geburt Menuchims beginnt: Auseinanderleben der Eheleute, Kinder entfernen und entfremden sich von den Eltern, die Kommunikation ist durch die Kälte der Beziehungen zwischen ihnen allen schon der alten Heimat stark gestört. (Aber das sind Phänomene, die heute vielfach schon zum Ehealltag gehören, man denke nur an die vielen Ehescheidungen.)

Mendel selbst empfindet die aufkommende Zufriedenheit in Amerika "wie ein fremdes, geborgtes Kleid". Doch das Unglück schreitet schnell, wie es bei Schiller heißt oder volkstümlich ausgedrückt: dann kommt es ganz dicke. Der erste Weltkrieg bricht aus, 1917 nimmt auch Amerika daran teil, Sam wird Soldat und wird im Krieg getötet, Jonas ist in Russland verschollen. Deborah gerät außer sich vor Kummer, reißt sich die Haare aus und stirbt darüber. Mirjam, der Gefahr drohte durch einen neuen "Kosaken", durch Herrn Glück, (ihr Freund Mac, Geschäftspartner von Sam ist im Krieg) verfällt dem Wahnsinn und kommt in eine Anstalt. Nachdem sich die Hiobsbotschaften nun so gehäuft haben, dass Mendel sie nicht verkraften kann, fühlt er sich von Gott ungerecht behandelt, und er gibt, salopp ausgedrückt, dem Herrn und Schöpfer den Laufpass, er will den Gebetsmantel und alles was dazu gehört verbrennen, ja, er will Gott selbst verbrennen und bezeichnet sein früheres Frommsein als Verrücktsein. "Aus, aus, aus ist es mit Mendel Singer", ruft er.

Aber vier Juden, die das Feuer wahrgenommen haben, kommen zu ihm und reden ihm gut zu. Sie halten ihm seine eigenen bisherigen Ansichten vor, dass "Gottes Schläge einen verborgenen Sinn" hätten, erinnern ihn an den biblischen Hiob, dem Ähnliches geschehen sei. Die Rede ist von Wundern, an die Mendel nun nicht mehr glauben will.

"Gott ist grausam, und je mehr man ihm gehorcht, desto strenger geht er mit uns um.. Befolgst du die Gesetze, so sagt er, du habest sie nur zu deinem Vorteil befolgt. Und verstößt du nur gegen ein einziges Gebot, so verfolgt er dich mit hundert Strafen.. Gütiger als Gott ist der Teufel. Da er nicht so mächtig ist, kann er nicht so grausam sein.."

Rosenberg fragt nach, ob Hiob nicht vielleicht doch eine Schuld auf sich geladen habe, weil er Menuchim zurückgelassen habe. "Vielleicht, lieber Mendel, hast du Gottes Pläne zu stören versucht, weil du Menuchim zurückgelassen hast? Ein kranker Sohn war dir beschieden, und ihr habt getan, als wäre es ein böser Sohn."

Mendel lässt sich auf nichts ein und lässt sich nicht trösten. Doch plötzlich wird er beredt: "Nein, meine Freunde! Ich bin allein, und ich will allein sein. Alle Jahre habe ich Gott geliebt, und er hat mich gehasst. Alle Jahre habe ich ihn gefürchtet, jetzt kann er mir nichts mehr machen. Alle Pfeile aus seinem Köcher haben mich schon getroffen. Er kann mich nur noch töten. Aber dazu ist er zu grausam. Ich werde leben, leben, leben."

Von diesem Zeitpunkt an betet er nicht mehr, aber seine Freunde, die ihn vor dem Schlimmsten bewahrt haben, sorgen dafür, dass er nicht vollends untergeht. "Obwohl Mendel mit Gott böse war, herrschte Gott noch über die Welt. Der Hass konnte ihn ebenso wenig fassen wie die Frömmigkeit", so überlegt Mendel. Er betet nicht mehr zu Gott. Seine Existenz leugnet er nicht, wohl aber dessen Güte und Gerechtigkeit. Denn für Mendel steht jetzt fest: "der Vater war mächtig und böse."

Alle anderen beten, weil sie sich fürchten, aber Mendel fürchtet sich nicht mehr und betet daher nicht mehr. Er war böse auf Gott und dachte sich Lästerungen sondergleichen aus. Er durchlebt in der nun folgenden Zeit Höllenqualen, die er sich aber nicht so recht eingestehen will.

Eines Tages taucht, dank der Erfindung des Grammophons, in der Musikalienhandlung seines Freundes Skowronnek, in der er sich oft nützlich macht, eine neue Musikplatte auf mit einem Lied, das heißt "Menuchims Lied". Mendel wird auf seltsame Weise von dieser tröstlich wirkenden Musik, von der eine große suggestive Kraft ausgeht, anerührt. Jetzt setzt ein Katharsisprozess der Überwindung hiobsmäßiger Verzweiflung ein. Eine Vorbereitung der Versöhnung Mendels mit der Welt bahnt sich an.

Der Weltkrieg ist inzwischen zu Ende. Man schreibt das Jahr 1919. Es wird wieder einmal Frühling. Ostern naht. Mendel denkt an die alte Heimat, an die Kindheit seiner Kinder, als alle noch voll Hoffnung waren, dass der Messias kommen werde, und er beschließt, zurückzufahren nach Zuchnow und will den Ozean noch einmal überqueren.

Und dann erscheint in dem Viertel ein Kapellmeister, von dem man sich erzählt: er sei ein großer Komponist, der sich nach Mendel Singer erkundigt habe. Er heißt Alexej Kossak und kommt aus Zuchnow, und ist, kurz gesagt, kein anderer als Menuchim, der kranke Sohn von Mendel. (Roth hat diesen Vorgang sehr spannend aufgebaut, beziehungs- und anspielungsreich gestaltet und mit doppeltem Boden ausgestattet.) Er hat inzwischen ärztliche Hilfe erfahren, ist ein großer Künstler geworden und befreit den Vater aus seinem Elend. Die Weissagung des Rabbi hat sich erfüllt.

(Zwischenbemerkung: Hätten seine Eltern die ärztliche Hilfe in seiner Kindheit angenommen, als der Impfarzt ihnen diese angeboten hatte, hätte man sich den Umweg ersparen können. Denn der Arzt, der den Säugling damals untersuchte, sagte: "Ich könnte ihn vielleicht gesund machen." Aber wie sagt man doch: "Gott schreibt gerade auch auf krummen Zeilen". So heißt, es nicht nur bei Bruce Marshall.) In diesem Zusammenhang taucht die Frage nach einem möglichen Sinn von Leid auf, die man sicherlich nicht bündig und befriedigend beantworten kann. Man kann sich jedoch die Frage stellen, ob der Mensch nicht gerade durch Umwege erst zu sich selber kommt.

Am Osterabend bzw. Pessachfest bei der Seder-Feier geschieht dann das große Wunder, an dem sich beide begegnen und sich der Sohn zu erkennen gibt. Aber nicht nur das, Menuchim überbringt dem Vater die freudige Mitteilung, dass Jonas, der seit 1915 verschollen war, lebt, und er macht ihm auch Hoffnung darauf, dass er Ärzte finden wird, die Mirjam von ihrer Verwirrtheit heilen können. Als Mendel das Bild von Menuchims Kinder, seinen Enkeln, betrachtet, ist ihm, als ob das Mädchen die Züge von Deborah trage, als werde ihm seine Frau in der Enkelin wiedergeschenkt.

Der Sohn übernimmt hier eine geradezu messianische Aufgabe und führt die Reste der Familie wieder zusammen, so wie es der von seinen Brüdern verstoßene Joseph in der biblischen Legende getan und den Stamm Israels erneuert hat.

Synchron gesehen, steigt Menuchim immer höher zu Glück und Erfolg auf, je tiefer Mendel in Hoffnungslosigkeit versinkt. Natürlich könnte man in dieser Geschichte einfach das hässliche Entchen sehen, das durch die Musik zum schönen Schwan wird. Aber biblisch gesehen, ist es die Josephsgeschichte. Der junge Joseph wird von seinen Brüdern fast ermordet und in einem "fremden" Land zurückgelassen. Dort wächst er auf, gelangt zu Ruhm und Ansehen und kann später die ganze Familie retten. Man kann bei dieser Geschichte natürlich auch an die Heimkehr des verlorenen Sohnes denken.

"Der Schmerz wird ihn weise machen, die Hässlichkeit gütig, die Bitternis milde und die Krankheit stark", hatte der Rabbi zu Deborah einst über ihren kranken Sohn gesagt, und so ist es offensichtlich auch gekommen.

Mendel ist glücklich und spricht von einem Wunder und sieht nach der Wiedererkennung seines Sohnes seine Vergehen gegen Gott ein. Er schämt sich zugleich, dass er ihn einen allmächtig-bösen "Isprawnik", nämlich Polizeichef, genannt hat. Nun hat er alle Aussicht, "nach späten Jahren in den guten Tod (einzugehen), umringt von vielen Enkeln und 'satt am Leben', wie es im 'Hiob' geschrieben stand". Und der letzte Satz lautet: "Mendel schlief ein. Und er ruhte aus von der Schwere des Glücks und der Größe der Wunder." (Laut Michael Zimmer:"Metaphorisch-euphemistische Umschreibung im Jüdischen für den Tod". Einerlei, ob Mendel in diesem Augenblick stirbt oder einige Jahre später, wie Roth einige Seiten zuvor suggeriert, auf jeden Fall ist seinem Leben ein glückliches Ende beschieden.)

Versöhnt sich Singer wirklich mit Gott?

Mendel Singer ist keine reine Reinkarnation des biblischen Hiob. Während der nämlich um seinen Gott ringt und ihn wiederfindet, weil er ihn nie ganz verloren hat, bleibt Mendels Rückwendung zu Gott eigentümlich unsicher und traumhaft. Allem Anschein nach findet Singer zu Gott zurück, aber auf einer anderen Stufe, auf einer anderen Windung der Spirale, wenn man sich die Entwicklung des Menschen oder seinen Weg zu Gott spiralenförmig vorstellt.

Roth hat später von diesem Roman gesagt, er sei zu virtuos, das Leid zu schmackhaft und zu weich und soll hinzugefügt haben: "Mein Hiob findet Gott nicht". Spricht Roth hier von sich selbst? Wie weit darf man seiner Aussage trauen? Immerhin war Roth, wie so viele andere Menschen auch, "ein Mensch mit seinem Widerspruch".

Autobiografische Momente in Roths Hiobrezeption

In Mendel Singer alias Hiob steckt sicherlich vieles von Joseph Roth. Es gibt gewisse biographische Hintergründe oder Gemeinsamkeiten. Ein Blick auf die Biographie des Autors zeigt, wie sehr Roth diesen Roman eigenen Leiderfahrungen abgetrotzt hat. Er ist das "Zeugnis einer Lebenskrise"(G.vom Hofe). Leidvoll erfahrene Existenz wirft aber Roth nicht nur auf sich selbst zurück und macht ihn nicht nur zeitweise zum gepeinigten Außenseiter, sondern befähigt ihn auch, diese Erfahrungen im Hiob-Roman literarisch zu gestalten.

Während Roth seinen "Hiob" schrieb, saß seine schwer gestörte Frau im Nebenzimmer. Später machte er sich Vorwürfe, dass er nicht besser auf sie aufgepasst und mehr geliebt habe. Er wurde von Schuldgefühlen geplagt, hinzu kamen berufliche Schwierigkeiten und akute Geldsorgen. Ein weiteres Problem war der Alkoholismus. Er steckte zweifellos in einer schwierigen, wenn nicht sogar aussichtslos erscheinenden Lage. Zudem mag sich Roth zeitweise entwurzelt gefühlt und mit Hiob verglichen haben.

Ein zweites biographisches Moment ist Roths damalige Hinwendung zum Ostjudentum, seine Besinnung auf seine Verwurzelung in der osteuropäischen Kultur und Tradition, wie sie auch in seinem wohl schönsten Essay "Juden auf Wanderschaft" (1927) zum Ausdruck kommt. "Es ist furchtbar schwer, ein Ostjude zu sein", behauptet Roth hier. Die Heimatlosigkeit von Menschen hat Roth mehrmals in seinen Romanen thematisiert und als eine jüdische Realität dargestellt.

In diesem Roman drücken sich auch Roths Verbundenheit und heimliche Solidarität mit seiner Heimat und ihren jüdischen Menschen aus, aber auch Kritik an der ostjüdischen Orthodoxie - Mendel erscheint reichlich engstirnig - und an der westlichen Zivilisation.

Kritik insbesondere an Amerika, wird deutlich in dem zweiten Teil des Romans. Roth schildert, wie sich die Familie in Amerika einzuleben versucht und macht sich gleichzeitig lustig über das Land der unbegrenzten Möglichkeiten. Seine versteckte Kritik am amerikanischen Way of Life kommt in den Reaktionen von Deborah und Mendel auf Amerika deutlich zum Ausdruck. Wurde doch in Amerika das osteuropäische Judentum, das den sprachlichen, kulturellen und sozialen Sprung innerhalb kurzer Zeit bewältigen musste, unmittelbar mit der Moderne konfrontiert.

Roths "Hiob" enthält durchaus sozialkritische Aspekte, aber in diesem Zusammenhang geht es uns in erster Linie um das Hiob-Problem, um die Beziehung des Menschen zu Gott, um die Fragen, wie werden Menschen mit schweren Schicksalsschlägen fertig, wie hält der Glaube Belastungen aus? In gesunden Tagen, in Zeiten, in denen alles gut geht, ist es verhältnismäßig leicht zu glauben, obwohl auch das vielen Zeitgenossen von heute schwer fällt. Darüber hinaus ist der Roman auch ein Nekrolog und ein Requiem auf die ausgelöschte ostjüdische Welt.

Die Geschichte spielt in der ostjüdischen oder ostjiddischen Welt, unverkennbare Zeichen deuten darauf hin: Die Personen reden im Buch wohl deutsch, aber im Grunde reden sie jiddisch. Roth hat einmal gesagt: "In meinen Büchern übersetze ich die Juden für den Leser" und sein Autobiograph David Bronsen meinte: "Hiob ist der jüdischste von Roths Romanen".

"Er war nur ein Lehrer" und "Mendel Singers Kinder haben kein Glück. Sie sind eines Lehrers Kinder" heißt es. Warum sollten die Kinder eines Lehrers eigentlich unglücklich sein? Weshalb wird der Lehrer von vornherein als Unglücksrabe gewertet? Die Antwort liegt in der jüdischen Soziosemiotik oder anders gesagt, der Roman ist auch eine "Dokumentation des ostjüdischen Alltags, wie man sie selten findet" (Heinrich Böll). Das Wort "Lehrer" ist die Übersetzung des jiddisch-hebräischen Wortes "Melamed", was so viel wie Volksschullehrer, Lehrer der untersten Schulklassen bedeutet. In der Soziologie der Juden ist dieser Beruf der am schlechtesten bezahlte und sozial niedrigste. Das Wort wird sehr oft als Synonym für Schlemassel (Unglücksrabe, Pechvogel) gebraucht. Der Jeschivalehrer, der in der religiösen Ober- und Hochschule unterrichtet, steht hingegen sehr hoch in der gesellschaftlichen Hierarchie. Erst wenn man den Code dieser sozialen Gruppe versteht, weiß man, warum Mendels Kinder unter dem Status ihres Vaters leiden.

Der Kult, die Gebräuche und Gebärden sind jüdisch, Mendel betet dreimal täglich, seine Frau wendet sich an einen Wunderrabbi, Kleidung und Festtage entsprechen der jüdischen Tradition. Angemerkt sei ferner, dass Menuchims Behinderung im jiddisch-orthodoxen Glaubenskreis des Ostjudentums als ein Schandfleck betrachtet wird, als eine Strafe Gottes. Krüppel heißt nämlich auf jiddisch "Kalike", das meint nicht nur eine körperliche Behinderung, sondern bedeutet auch "unfähig zum Lernen", und wenn man weiß, wie wichtig Juden das Lernen ist, das Lesen und Schreiben, dann kann man in etwa ermessen, wie schlimm für Juden ein derartiges Schicksal sein muss. "Schon seine Krankheit (Menuchims) war ein Zeichen, dass Gott mir zürnt - und der erste der Schläge, die ich nicht verdient habe", sagt Mendel zu seinen Freunden.

Auf der anderen Seite heißt Menuchim "der Tröster", warum wird freilich erst später deutlich.

Erwähnt wird auch der Monat Ab, in dem der Tempel zerstört wurde und sich die Juden von Zuchnow auf dem Feld versammeln, sowie der Monat Ellui, in dem die hohen Feiertage anbrechen. Es ist der zwölfte Monat im jüdischen Kalender mit Jom Kippur.

Manches hat Roth auch unübersetzt gelassen wie Osterbrot gleich Matzes, Gebetsmantel und Gebetsriemen gleich Tallis und T'fillin.

Als Deborah einmal mit der kleinen Tochter spazieren geht, läuft Mirjam "in die Kirche hinein, in den goldenen Glanz und das Brausen der Orgel". Die Mutter erschrickt und versucht, sie zu retten. Bei einer späteren Auseinandersetzung mit der Tochter empfindet sie deren Stimme "kupfern.. wie eine der gehassten und gefürchteten Kirchenglocken". Dies alles, aber insbesondere der Kirchenbesuch, verunsichert sie - ebenso wie den Vater Mirjams Treffen mit einem Kosaken in den Feldern. Der Kosak ist das Symbol nicht nur der verfolgenden, sondern auch der verführerischen Welt der Nichtjuden, Inbegriff existentieller Bedrohung und Repräsentant der Welt des Teufels in den Augen Mendels. Die leidvolle geschichtliche Erfahrung der Juden nicht nur in der Zarenzeit, sondern während der letzten zweitausend Jahre spielt in Roths Erzählung mit hinein. Jedem Juden ist diese geschichtliche Erfahrung von Generationen geläufig. Zweitausend Jahre Verfolgung durch die christliche Kirche haben in der Seele eines jeden Juden tiefe Spuren hinterlassen.

Von Integration keine Spur, diese wird auch nicht gewollt

Roths "Hiob" ist auch ein Emigrations- und Bildungsroman im Vorfeld der Katastrophe der Shoah. Der Roman illustriert die Zeit des Zerfalls der traditionellen Lebensbedingungen der Ostjuden, die Zeit der Emigration, die Zeit eines drohenden Verlustes der jüdischen Identität durch Assimilation. Wir haben es hier mit der Schilderung zweier Assimilationsprozesse zu tun. Der erste negative in Amerika zersplittert und zerstört die Familie und macht Mendel zum Hiob. Der zweite, der künstlerische Assimilationsprozess, wird als positiv, als gelungen dargestellt: der assimilierte Künstler Menuchim erringt die Anerkennung der Welt durch sein Talent und kann so seinen Vater retten. Insofern ist der Roman auch eine Auseinandersetzung mit einem der bedeutendsten Probleme des modernen Judentums. Vor allem aber schildert "Hiob" den Identitätsverlust von Ostjuden in der amerikanischen Gesellschaft. Der biblische Hiob drohte seiner Identität verlustig zu gehen, als er sich von Gott abwenden wollte, denn seine Identität wurzelte in Gott. Man kann in diesem Zusammenhang fragen, ob der Mensch, der Gott verliert oder sich von ihm lossagt, damit auch seine Identität einbüßt? (In der heutigen Zeit sagen sich viele von Gott los, von der Kirche oder von beiden und glauben, damit erst zu ihrer wahren Identität zu kommen.) Roth schildert mithin die Hiob-Situation eines modernen Menschen, seine Entwurzelung, seine Unbehaustheit in Gestalt eines Juden. Juden haben vielfach Erfahrungen, die später noch viele andere machen mussten, vorweg genommen wie Heimatverlust und Identitätsverlust, die zu den Merkmalen des 20. und womöglich auch des 21.Jahrhunderts gehören. Die Flüchtlingsscharen Ende des zweiten Krieges und die heutigen Asylbewerber, die aus ihrer Heimat vertrieben werden oder es dort nicht mehr aushalten, sprechen für sich.

Vergleich zwischen Roths Hiob und dem biblischen Hiob

In der Bibel heißt es von Hiob:"Er war fromm und rechtschaffen, gottesfürchtig und mied das Böse." Roth beschreibt Mendel Singer ebenfalls gleich im zweiten Satz: als "fromm und gottesfürchtig". Schon diese Übereinstimmung im Wortlaut macht den Protagonisten - in unmittelbarer Fortsetzung des Roman-Titels - von Anfang an zur Hiob-Figur. Von Hiob heißt es jedoch im gleichen Bibelvers (Vers 8), es sei "seinesgleichen nicht auf Erden". Auch hierauf bezieht sich der Roman-Anfang, aber nur insofern, als er dieser Bestimmung im Hinblick auf Mendel Singer direkt widerspricht: Denn bei Mendel wird seine "Gewöhnlichkeit" hervorgehoben und ausführlich erläutert, indem vom "schlichten Beruf", vom fehlenden "Erfolg", vom "unbedeutenden Wesen", vom "landesüblichen jüdischen Kaftan", vom "unbedeutenden blassen Gesicht" und vom "gewöhnlichen Schwarz" des Vollbarts die Rede ist: "Hunderttausende vor ihm hatten wie er gelebt und unterrichtet." Das entspricht dem Untertitel des Buches, "Roman eines einfachen Mannes". Der große Hiob hat sich hier in einen jüdischen Jedermann verwandelt, der gleichwohl seine Würde hat und behält.

Roths Hiob-Figuren sind nicht wohlhabend wie der biblische Mann aus Uz, sondern Angehörige sozialer Randgruppen - ein kleinbürgerlicher Kriegsinvalide und ein orthodoxer Durchschnittsjude oder ostjüdischer Emigrant.

In der Zeit, in der der Roman spielt - es ist die Zeit, die auf den Ersten Weltkrieg hinführt - und in der Zeit, in der er geschrieben wurde - es sind die letzten Jahre der ihrem Untergang zueilenden Weimarer Republik -, zumindest in dieser Epoche sind die Millionen "kleiner Leute" die wahren "Hiobe". Es kann daher nicht mehr darum gehen, das Schicksal eines "Großen", und sei es dessen entsetzliches Hiob-Schicksal, zum Gegenstand eines Romans zu machen, sondern darum, das Hiob-Schicksal der Millionen, die an ihrer Zeit leiden und zugrunde gehen, an einem exemplarischen Fall darzustellen. Die russische Revolution mit der Umwandlung der konventionellen Landwirtschaften in Kolchosen und anschließender, oft tödlich verlaufender Hungersnot und die Ablösung des Kaiserreiches durch die Weimarer Republik mit Inflation und Hungerperioden waren von ihren Intentionen her darauf angelegt, den bisher Benachteiligten zu dienen. Dennoch waren viele kleine Leute in den Zeiten des Umbruchs schlechter gestellt als vorher. Viele fühlten sich entwurzelt und verloren den Boden unter den Füßen. Wie so oft waren die "kleinen Leute" wieder einmal die Leidtragenden der Geschichte.

Der moderne Hiob bei Roth ist ein einfacher Mann, der seine Gedanken nicht ausdrücken kann, auch nicht seine rebellischen. Daher setzt er sie in symbolische Handlungen um, indem er den Gebetsriemen anlegt oder sich anschickt, Gebetsutensilien zu vernichten und so den biblischen Hiob parodiert. Er versucht zum Beispiel, Gott zu ärgern, "indem er in das italienische Viertel hinübergeht um Schweinefleisch zu essen", ferner indem er nicht betet, obwohl es ihn schmerzt. Eine fast kindliche, um nicht zu sagen kindische Verhaltensweise legt Mendel Singer an den Tag. Er ist zwar keineswegs der völlig statisch gezeichnete demütig-passive Dulder, aber die Rebellion hat für ihn einen geringeren Stellenwert als für sein biblisches Vorbild. Gleichwohl kommt der anfangs demütige Dulder an den Rand der Rebellion, eine Haltung, die Ernst Bloch am biblischen Hiob sehr geschätzt hat. Allerdings geht Mendel nicht den letzten Schritt und lässt sich noch eine Tür offen, indem er seine Gebetsutensilien, entgegen seiner ursprünglichen Absicht, nicht verbrennt.

Er besitzt nicht das intellektuelle Format und die geschulte Sprachmächtigkeit des biblischen Hiob, die diesen im Leiden wappnen, so dass er weder völlig schutz- noch ratlos seinen Schicksalsschlägen ausgesetzt ist. Mit solchen Kompetenzen kann sich Roths "einfacher Hiob" nicht messen. "Der überaus beredten Klage, ja argumentativ begründeten Anklage Gottes, einer geradezu methodisch entwickelten Provokation seines Schöpfergottes ist der einfältige Mendel Singer nicht fähig"(G.vom Hofe). Einfach erscheint er im Hinblick seiner sozialen Herkunft und seiner geistigen Fähigkeiten. Er kann sein schuldlos-schuldiges Leiden nur hilflos unzulänglich rationalisieren, wenn überhaupt zur Sprache bringen. Ihm gab nicht ein Gott zu sagen, "was ich leide". Mendel repräsentiert den unscheinbaren, aus ärmlichen Verhältnissen stammenden Juden. Er ist der Typus des zeitgenössisch orthodoxen heimatlosen Ostjuden galizischer Provenienz.

Die historische Situation in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zwingt dazu, die alte Hiob-Frage neu zu stellen, im Zusammenhang mit dem Elend und dem Leiden von Millionen "einfacher Leute", die Theodizee-Frage nach einer letzten Gerechtigkeit in der Welt neu aufzuwerfen, vielleicht radikaler als bisher, weil es um das Elend der Massen geht.

Genau darin besteht das Mythisch-Parabolische oder Gleichnishafte der Existenz von Mendel-Hiob, dass sich hier im Schicksal eines einzelnen und seiner Familie der epochale Umbruch des 20. Jahrhunderts spiegelt, der 1917 mit der Russischen Revolution und dem Eintritt der USA in den Weltkrieg stattgefunden bzw. begonnen hat: die als Katastrophe empfundene Ablösung von der alten europäischen Welt, die dann noch lange nicht zur Entstehung einer stabilen, friedlichen neuen Welt, sondern zu einer Kette neuer Katastrophen geführt hat, die bis heute andauert.

Ein weiterer Gesichtspunkt: Beim biblischen Hiob heißt es:"Der Herr hat's gegeben, der Herr hat's genommen, gelobt sei der Name des Herrn". Bei Mendel wird diese Einheit von Geben und Nehmen dichotomisch aufgespalten. Gott hat Mendel nicht mit unzähligen Gaben überschüttet wie den biblischen Hiob. Mendel ging es von Anfang an schlecht. Später wird ihm das Wenige, was er besaß, nämlich seine Familie, auch noch genommen. Geben und Nehmen verteilen sich hier auf verschiedene Personen als das ungleiche Maß der unberechenbaren Unbegreiflichkeit Gottes. Zunächst jedoch nimmt Mendel die ungleichen Verhältnisse quietistisch hin, weil er glaubt, dass alles nur provisorisch sei und dass ihm eines Tages Gerechtigkeit zuteil werde.

Der Protagonist in Roths Roman ist wohl vergleichbar, stimmt aber nicht völlig überein mit dem alttestamentarischen Hiob. Die Nähe von Roths Roman zur biblischen Vorlage ist unübersehbar. Die Sprache allerdings erinnert an die der Bibel. Sie ist einfach, schlicht, scheinbar naiv und bilderreich. Sie kennt formelhaft wiederkehrende Sätze, ist mitunter auch geradezu poetisch und hat einen doppelten Boden.

Einige Bezugstellen in Roths "Hiob" zum biblischen Hiob liegen auf der Hand. Wie Hiob verliert auch Mendel Singer seine Frau und seine drei anfangs gesunden Kinder, und was mit dem vierten ist, weiß er nicht, er befürchtet Schlimmes.

Die Freunde Skowronnek, Rottenberg, Groschel und Menkes kommen zu Besuch, um Mendel beizustehen und erweisen sich als hilfreicher als in der biblischen Vorlage. Sie machen ihm Vorwürfe, aber lassen ihn nicht allein. Sie fragen ebenfalls nach dem Zusammenhang von Sünden, Vergeltung und Bestrafung, doch sie sind nicht ganz so rechthaberisch wie die Freunde des biblischen Hiob, eher ratlos, weil sie bei Hiob nichts erreichen. Sie kümmern sie sich um ihn auch über den Tag hinaus. Die Solidarität der Juden, der mehr oder weniger stillschweigende moralische Imperativ "Juden lassen Juden nicht im Stich" ist hier mit eingeflossen.

Mendel selbst ist nicht ganz unschuldig. Der biblische Hiob wird hingegen als untadeliger Mensch dargestellt. Mendel ist blind, unsensibel gegenüber seiner Frau und seinen Kindern und lässt seinen Jüngsten im Stich. Er hat sich also durchaus einiges zu Schulden kommen lassen, doch wo gibt es den ganz und gar unschuldigen Menschen? "Wer unter euch ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein", heißt es in der Bibel bei Johannes. (8,7) Mendel ist, möchte ich kühn behaupten, lebensechter, realistischer gezeichnet als der biblische Hiob.

Auch Mendel geht wie Hiob anfangs von einem Tun-Ergehen-Zusammenhang aus - so wie ich mich verhalte, so wird es mir ergehen -, von einer Kausalität zwischen Schuld und Strafe, nach der Devise, wenn ich kein Unrecht tue, geschieht mir auch nichts Böses. Er diente Gott buchstabentreu, formal rituell. Er sah nicht mit dem Herzen, dadurch verfehlte er sowohl Gott als auch die Menschen

Der Roman enthält viele Anspielungen auf Bibeltexte,

zum Beispiel auf die Opferung Isaaks: "Auf beiden Armen bot sie ihren Sohn dar wie man ein Opfer darbringt" - wobei es Menuchim der Sohn ist, den seine Mutter opfert - im übertragenen Sinne natürlich. Auch andere Stellen erinnern im Wortlaut an die Bibel: "Menuchim war die letzte missratene Frucht ihres Leibes",

"die Uhr schlug wie eine Erlösung",

"sie schämten sich voreinander(am Ende der ehelichen Beziehungen, bei Adam und Eva begannen diese mit dem Schämen),

das Wort Mama, zum ersten Mal aus dem Munde Menuchims empfand Deborah wie eine "Offenbarung".

Der älteste Sohn Jonas wird als "stark und langsam wie ein Bär" charakterisiert, der jüngere Schemarjah ist "schlau und hurtig wie ein Fuchs". Das wiederum gemahnt an die Konstellation der ungleichen Brüder Esau und Jakob in der Genesis, und wenn die schöne und vielbegehrte Schwester Mirjam "wie eine Gazelle" erscheint, dann wird man an die Bildersprache des Hohenliedes und den Frauentypus Sulamith erinnert (v.Hofe).

Der christologische Gedanke des stellvertretenden Leidens klingt an, wenn es heißt: "In der Familie Mendel Singers aber schien es, als hätte der kleine Menuchim die ganze Anzahl menschlicher Qualen auf sich genommen, die sonst eine gütige Natur sachte auf alle Mitglieder verteilt hätte."

Die Auswanderung nach Amerika erscheint wie die Parallele zum Auszug der Juden aus Ägypten ins Gelobte Land. Ironische Brechungen liegen in den Bezeichnungen Amerikas als "Land Gottes", Russlands als "ein trauriges Land", Amerika ist ein freies Land, ein fröhliches Land", ein "gesegnetes Land", ein geradezu gelobtes Land, das aber nicht hält, was es verspricht. Später erweist sich Amerika sogar als "tödliches Vaterland".

Roth spielt hin und wieder in einem leicht ironischem Unterton mit biblischen und jüdischen Traditionen und Redewendungen. Die Wiedererkennungsszene findet zum Beispiel am "Osterabend" statt, Mendel ist der "Geringste unter den Anwesenden" heißt es gleich an zwei Stellen, Menuchim gibt sich nach einigen erzähltechnischen Verzögerungen zu erkennen. Man kann darin eine Anspielung auf die Auferstehung Christi sehen, während sein Erscheinen im Familienzimmer während des Osterfestes eine klare Anspielung auf das Kommen des Messias ist. Roth benutzt sowohl die jüdische als auch die christliche Symbolik. Er war zwar kein Glaubensjude mehr, was ihm orthodoxe Juden oft vorgehalten haben, aber er fühlte sich im Judentum durchaus noch beheimatet. Zugleich war er von christlichem Gedankengut erfüllt.

Die Rettung des Juden erfolgt durch einen Menschen, der unter Nichtjuden aufwuchs oder anders ausgedrückt: Mendels Sohn Menuchim - kein "einfacher Mann" - verfügt souverän über die "geistigen Grundlagen für eine neue Welt" und vermag dadurch sogar - als messianische Gestalt - seinen Hiob-Vater zu retten. Dass Roth den Roman mit dem Pessach-Fest 1919 in New York enden lässt - geschieht sicher auch nicht von ungefähr.

Im Unterschied zum Kleinbürger Pum in "Die Rebellion", der die pseudoreligiösen Formen seines Obrigkeitsglaubens als Irrtum erkennt und sein Leben in Resignation beendet, erfährt Mendel Singer am Ende des Romans "ein Wunder", die Wiederbegegnung mit seinem totgeglaubten Sohn. Bernd Hüppauf schreibt dazu: Die Weisheit, die Singer aus dem Zerbrechen seines Lebens- und Weltsystems (Verlust von Familie und Heimat, Infragestellung der jüdischen Religion) erringt, ist die Weisheit des Skeptikers, der sich bewusst ist, dass "die Stellung des Menschen in der Welt ..fragil, die Zukunft ungewiss und das Individuum ein Nichts im allgemeinen Geschehen" ist.

Bei Roths Hiob wie beim biblischen Hiob geschehen am Ende wahre Wunder. Beide Geschichten haben einen glücklichen Ausgang. Indes - im wirklichen Leben geschehen derartige Wunder so gut wie nie, Menschen, die schlimme Schicksalsschläge erleiden, gehen entweder daran zugrunde, zerbrechen daran oder finden nach und nach wieder Zugang zum Alltag. Die Schmerzen allerdings, die die Schicksalsschläge verursacht haben, halten noch lange an. Vielleicht brennen sie sogar für immer in ihrer Seele. Narben bleiben allemal. Und sich mit seinem Schicksal versöhnen - das wiederum dürfte nur wenigen gelingen, allenfalls finden sie sich damit ab.

Die Wunder am Schluss - hat Roth sie wirklich ernst gemeint, (immerhin müssen wir bedenken, wir haben es hier nicht mit einer Legende, sondern ganz ernsthaft und von Roth gewollt mit einem Roman zu tun) ganz naiv als bare Münze oder vielleicht nur ironisch eingefügt oder aus reinem Wunschdenken, wohlwissend, so schön und wundersam ist die Wirklichkeit nicht. Hoffte Roth am Ende für sein Leben insgeheim auf Wunder? Diese blieben aus, aber ihr Ausbleiben hat seine Schaffenskraft nicht gelähmt, im Gegenteil. Die Wunder, deren Roth so dringend bedurft hatte, hat er schließlich selbst erfunden.

Die wunderbare Heilung des Sohnes hat viele Kritiker nicht überzeugt. Ludwig Marcuse zum Beispiel hält das Romanende für verfehlt. Dieses sei eine "kompositorische Verlegenheit". Hans Blumenberg dagegen sieht darin eine literarisch überzeugende Aktion gegen die "Diskriminierung des Trostes". Man soll den Trost annehmen, der einem geboten wird durch die Bibel, durch die Religion oder durch andere Menschen. Für Mendel geschieht das schlechthin Unbegreifliche, das nicht mehr Erwartete. Der biblische Hiob hat, wie wir wissen am Ende durchaus eine neue Gotteserfahrung gemacht. Gilt dies auch für Mendel Singer? Es fällt dem ein oder anderen möglicherweise schwer, zu glauben, dass Roths Hiob zu Gott findet, und ob Roth selbst dies gelungen ist, dünkt noch fraglicher, aber man weiß natürlich nie, was in den letzten Stunden seines Lebens bei ihm vor sich gegangen ist.

Helmuth Nürnberger meint sogar: "Der Roman drückt nicht die Hinwendung seines Autors zum Gottesglauben aus, wohl aber den Unglauben in die Fähigkeit des Menschen, sein Los aus eigener Kraft zu verändern." Über dieses Resümee kann man streiten, aber so viel ist sicher: Der Mensch bleibt auf Gott angewiesen. Manche sprechen heute statt von Gott lieber von Glück oder einem gnädigen Schicksal.

Ich habe sicher nicht alle Interpretationsmöglichkeiten ausgeschöpft. Ich kann nur raten, lesen Sie Roths "Hiob" und Sie werden sicher noch andere Aspekte und andere versteckte Hinweise entdecken. Vielleicht aber ist es mir gelungen, deutlich zu machen, dass Roth, angetrieben von eigenen biografischen Erfahrungen und Momenten, den biblischen Hiobstoff literarisch so eindrucksvoll umgesetzt und in die Zeit des 20.Jahrhunderts so vortrefflich übersetzt hat, dass er bis heute aktuell geblieben ist und uns noch eine Menge zu sagen hat.

Weitergehende Betrachtungen:

Leid zwingt den Menschen allemal, in sich zu gehen, etwas gründlicher nachzudenken, aber nicht immer findet er dabei zu Gott.

Ist es überhaupt richtig, bei schweren Schicksalsschlägen mit Gott zu hadern? Gewiss, nicht wenige fragen sich mitunter ganz naiv, warum gerade ich, ich habe doch nichts Böses getan. Zudem hat der Mensch vieles auch in der Hand. In den 60er Jahren glaubte man reichlich optimistisch, man müsse nur die Verhältnisse ändern, denn diese hätten Menschen geschaffen und Menschen könnten sie wieder ändern, sie könnten Kriege abschaffen und dafür sorgen, dass es allen wohl ergeht. Auch das ist reichlich kurzsichtig.

Bedeutet es Fortschritt oder Rückschritt, wenn sich heute viele nicht mehr die Fragen von Hiob stellen? Das heißt, man fragt vor allem, warum gerade ich, aber nicht so sehr, warum straft mich Gott? Weist dieser Mangel nicht auf eine gewisse Gottesferne hin?

Friedrich Nietzsche und Simone Weil halten die Hiobsfrage für überflüssig. Simone Weil sieht im Leiden keinen Einwand gegen Gott, da neben der Schönheit gerade das Leid der vorrangige Lebensbezug und die besondere Gelegenheit der Gotteserfahrung ist. Und Nietzsche hat sich sinngemäß so geäußert: Leiden gehört zum Leben nun einmal dazu. Nietzsche hat im Leiden einen notwendigen Bestandteil des Wegs zum höchsten Glück gesehen und war der Ansicht, ohne Leiden könne man nicht zum Glück gelangen. "Lust und Schmerz sind `Zwillinge` und mit dem Glücke Homers in der Seele ist man auch das leidensfähigste Geschöpf unter der Sonne`."

Menschliches Leid bewirkt oft Veränderung und Entwicklung, provoziert aber gleichwohl bei den meisten Menschen nach wie vor die Suche nach immer neuen Erklärungen.

Trotzdem kann man sich fragen, ob es zulässig ist, Schuld, Strafe, Theodizee, die Rechtfertigung Gottes in einen Zusammenhang zu stellen. Schuld-Leid-Erlösung - die Rechnung geht nicht immer auf. Leid hat mit eigener Schuld nicht immer etwas zu tun, eher mit der Schuld von anderen, und der Gedanke, dass irgendwann ein Ausgleich geschieht, Gerechtigkeit geübt wird, bewegt und beruhigt viele. Denn oft werden Menschen moralisch schuldig, ohne dass ihre Schuld gesetzlich geahndet wird. Dass jedoch ein Schuldiger straflos ausgehen soll, dieser Gedanke, ist für viele unerträglich. Aber wie gesagt, Leid kann, muss aber nicht mit Schuld gekoppelt sein.

Auch der biblische Hiob macht seinen vier Freunden klar, dass seine Leiden durchaus nicht seine Schuld bezeugen und dass die Auffassung vom unbedingten Unheil für den Frevler nicht stimmt.

In einigen Artikeln, die zum ersten Jahrestag der Attentate des 11.September 2001 erschienen sind, war auch von Gott die Rede. Auf einem Comic stand über einem schwarzen Kreuz die Schrift" I am sick of God" (übersetzt wurde dieser Satz mit "Ich hab genug von Gott"), und ein anderer schreibt über die Ruinen der World-Trade-Center-Türme "I 've seen the power of faith".

Als die Pest Mitte des 14.Jahrhunderts Europa heimsuchte, wurde das massenhafte Sterben als göttliche Strafe gedeutet. In einem Fernseh-Feature über Epidemien entdeckte der Autor Harald Brandt, dass auch der Glaube an eine strafende Instanz zurückkehrt. "Die Erde", schreibt die Mikrobiologin Lynn Margulis, "wird nicht zulassen, dass unsere Bevölkerung weiter zunimmt." Auch das 21.Jahrhundert will in der Seuche einen Sinn entziffern. Naturwissenschaftler sind ihre neuen Exegeten. (Frank Kaspar in FAZ v.22.8.02)

Der Widerstandskämpfer Jossel Rakover gab kurz vor seinem Tod zu Protokoll: "Ich glaube an den Gott Israels, auch wenn Er alles getan hat, dass ich nicht an Ihn glaube."

Die Frage nach dem Sinn menschlichen Leidens provoziert die Suche nach immer neuen Erklärungen. Aber - kann und soll man Gott für jedes Ereignis verantwortlich machen?

Auswahlbibliographie:

Dem Beitrag liegt ein Vortrag zugrunde, den ich am 18.November 2002 in Bad Herrenalb im Rahmen einer Veranstaltung der Evangelischen Akademie Baden gehalten habe. Die Veranstaltung trug den Titel "Warum lässt Gott das zu? Hiob und die Frage nach Gerechtigkeit" und fand vom 15. bis 17.November 2002 statt. Außerdem wurde der Beitrag in verkürzter Form in der Fachzeitschrift für Literatur und Kunst "Der Literat" April 4/2003 veröffentlicht.


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