zurück vor auf Inhaltsverzeichnis


Autobiografische Momente in Roths Hiobrezeption

In Mendel Singer alias Hiob steckt sicherlich vieles von Joseph Roth. Es gibt gewisse biographische Hintergründe oder Gemeinsamkeiten. Ein Blick auf die Biographie des Autors zeigt, wie sehr Roth diesen Roman eigenen Leiderfahrungen abgetrotzt hat. Er ist das "Zeugnis einer Lebenskrise"(G.vom Hofe). Leidvoll erfahrene Existenz wirft aber Roth nicht nur auf sich selbst zurück und macht ihn nicht nur zeitweise zum gepeinigten Außenseiter, sondern befähigt ihn auch, diese Erfahrungen im Hiob-Roman literarisch zu gestalten.

Während Roth seinen "Hiob" schrieb, saß seine schwer gestörte Frau im Nebenzimmer. Später machte er sich Vorwürfe, dass er nicht besser auf sie aufgepasst und mehr geliebt habe. Er wurde von Schuldgefühlen geplagt, hinzu kamen berufliche Schwierigkeiten und akute Geldsorgen. Ein weiteres Problem war der Alkoholismus. Er steckte zweifellos in einer schwierigen, wenn nicht sogar aussichtslos erscheinenden Lage. Zudem mag sich Roth zeitweise entwurzelt gefühlt und mit Hiob verglichen haben.

Ein zweites biographisches Moment ist Roths damalige Hinwendung zum Ostjudentum, seine Besinnung auf seine Verwurzelung in der osteuropäischen Kultur und Tradition, wie sie auch in seinem wohl schönsten Essay "Juden auf Wanderschaft" (1927) zum Ausdruck kommt. "Es ist furchtbar schwer, ein Ostjude zu sein", behauptet Roth hier. Die Heimatlosigkeit von Menschen hat Roth mehrmals in seinen Romanen thematisiert und als eine jüdische Realität dargestellt.

In diesem Roman drücken sich auch Roths Verbundenheit und heimliche Solidarität mit seiner Heimat und ihren jüdischen Menschen aus, aber auch Kritik an der ostjüdischen Orthodoxie - Mendel erscheint reichlich engstirnig - und an der westlichen Zivilisation.

Kritik insbesondere an Amerika, wird deutlich in dem zweiten Teil des Romans. Roth schildert, wie sich die Familie in Amerika einzuleben versucht und macht sich gleichzeitig lustig über das Land der unbegrenzten Möglichkeiten. Seine versteckte Kritik am amerikanischen Way of Life kommt in den Reaktionen von Deborah und Mendel auf Amerika deutlich zum Ausdruck. Wurde doch in Amerika das osteuropäische Judentum, das den sprachlichen, kulturellen und sozialen Sprung innerhalb kurzer Zeit bewältigen musste, unmittelbar mit der Moderne konfrontiert.

Roths "Hiob" enthält durchaus sozialkritische Aspekte, aber in diesem Zusammenhang geht es uns in erster Linie um das Hiob-Problem, um die Beziehung des Menschen zu Gott, um die Fragen, wie werden Menschen mit schweren Schicksalsschlägen fertig, wie hält der Glaube Belastungen aus? In gesunden Tagen, in Zeiten, in denen alles gut geht, ist es verhältnismäßig leicht zu glauben, obwohl auch das vielen Zeitgenossen von heute schwer fällt. Darüber hinaus ist der Roman auch ein Nekrolog und ein Requiem auf die ausgelöschte ostjüdische Welt.

Die Geschichte spielt in der ostjüdischen oder ostjiddischen Welt, unverkennbare Zeichen deuten darauf hin: Die Personen reden im Buch wohl deutsch, aber im Grunde reden sie jiddisch. Roth hat einmal gesagt: "In meinen Büchern übersetze ich die Juden für den Leser" und sein Autobiograph David Bronsen meinte: "Hiob ist der jüdischste von Roths Romanen".

"Er war nur ein Lehrer" und "Mendel Singers Kinder haben kein Glück. Sie sind eines Lehrers Kinder" heißt es. Warum sollten die Kinder eines Lehrers eigentlich unglücklich sein? Weshalb wird der Lehrer von vornherein als Unglücksrabe gewertet? Die Antwort liegt in der jüdischen Soziosemiotik oder anders gesagt, der Roman ist auch eine "Dokumentation des ostjüdischen Alltags, wie man sie selten findet" (Heinrich Böll). Das Wort "Lehrer" ist die Übersetzung des jiddisch-hebräischen Wortes "Melamed", was so viel wie Volksschullehrer, Lehrer der untersten Schulklassen bedeutet. In der Soziologie der Juden ist dieser Beruf der am schlechtesten bezahlte und sozial niedrigste. Das Wort wird sehr oft als Synonym für Schlemassel (Unglücksrabe, Pechvogel) gebraucht. Der Jeschivalehrer, der in der religiösen Ober- und Hochschule unterrichtet, steht hingegen sehr hoch in der gesellschaftlichen Hierarchie. Erst wenn man den Code dieser sozialen Gruppe versteht, weiß man, warum Mendels Kinder unter dem Status ihres Vaters leiden.

Der Kult, die Gebräuche und Gebärden sind jüdisch, Mendel betet dreimal täglich, seine Frau wendet sich an einen Wunderrabbi, Kleidung und Festtage entsprechen der jüdischen Tradition. Angemerkt sei ferner, dass Menuchims Behinderung im jiddisch-orthodoxen Glaubenskreis des Ostjudentums als ein Schandfleck betrachtet wird, als eine Strafe Gottes. Krüppel heißt nämlich auf jiddisch "Kalike", das meint nicht nur eine körperliche Behinderung, sondern bedeutet auch "unfähig zum Lernen", und wenn man weiß, wie wichtig Juden das Lernen ist, das Lesen und Schreiben, dann kann man in etwa ermessen, wie schlimm für Juden ein derartiges Schicksal sein muss. "Schon seine Krankheit (Menuchims) war ein Zeichen, dass Gott mir zürnt - und der erste der Schläge, die ich nicht verdient habe", sagt Mendel zu seinen Freunden.

Auf der anderen Seite heißt Menuchim "der Tröster", warum wird freilich erst später deutlich.

Erwähnt wird auch der Monat Ab, in dem der Tempel zerstört wurde und sich die Juden von Zuchnow auf dem Feld versammeln, sowie der Monat Ellui, in dem die hohen Feiertage anbrechen. Es ist der zwölfte Monat im jüdischen Kalender mit Jom Kippur.

Manches hat Roth auch unübersetzt gelassen wie Osterbrot gleich Matzes, Gebetsmantel und Gebetsriemen gleich Tallis und T'fillin.

Als Deborah einmal mit der kleinen Tochter spazieren geht, läuft Mirjam "in die Kirche hinein, in den goldenen Glanz und das Brausen der Orgel". Die Mutter erschrickt und versucht, sie zu retten. Bei einer späteren Auseinandersetzung mit der Tochter empfindet sie deren Stimme "kupfern.. wie eine der gehassten und gefürchteten Kirchenglocken". Dies alles, aber insbesondere der Kirchenbesuch, verunsichert sie - ebenso wie den Vater Mirjams Treffen mit einem Kosaken in den Feldern. Der Kosak ist das Symbol nicht nur der verfolgenden, sondern auch der verführerischen Welt der Nichtjuden, Inbegriff existentieller Bedrohung und Repräsentant der Welt des Teufels in den Augen Mendels. Die leidvolle geschichtliche Erfahrung der Juden nicht nur in der Zarenzeit, sondern während der letzten zweitausend Jahre spielt in Roths Erzählung mit hinein. Jedem Juden ist diese geschichtliche Erfahrung von Generationen geläufig. Zweitausend Jahre Verfolgung durch die christliche Kirche haben in der Seele eines jeden Juden tiefe Spuren hinterlassen.


zurück vor auf uhomann@UrsulaHomann.de Impressum Inhaltsverzeichnis