zurück vor auf Inhaltsverzeichnis


War Weiningers Psychopathologie die Ratio seiner Zeit?

Nach Meinung von Nike Wagner hält die psychiatrische Fachwelt Weininger "für geistesgestört, für dubios die philosophische, für genial die literarische". Der französische Germanist Jacques Le Rider wiederum meint, Weininger sei zwar kein Genie gewesen, aber ein geniales Symptom; es stelle sich deshalb die Frage, inwieweit seine Psychopathologie nicht gleichzeitig die Ratio seiner Zeit gewesen sei. Vielleicht ließe sich auch die Pathologie eines ganzen Jahrhunderts entschleiern. Denn "bei Weininger stoßen wir auf das Resumee der Dämonie dieser Epoche."

Mittlerweile sei aus dem Traktat gegen die Weiber ein Dokument zum Verständnis von Männerwünschen und Männerängsten geworden, meint Nike Wagner, "ein Dokument, das die Emanzipation des Mannes noch dringlicher nahelegt als die der Frau."

Weininger beschrieb und fürchtete die Befreiung der Sexualität von der Ethik. Theodor Lessing sagte von ihm, er sei "an Ethik und Moral" erkrankt. Hat sich inzwischen Weiningers Befürchtung bestätigt? Nach Meinung des italienischen Autors Manlio Sgalambro ganz offensichtlich. Meint er doch im Hinblick auf Weiningers Hauptwerk: "Von den beiden Frauentypen, die Weininger unterscheidet, die absolute Mutter und die Hure, ist es in der aktuellen Phase unserer Kultur der zweite, der sich durchsetzt, in einem Grade, dass man ganz folgerichtig den Zeitpunkt vorausahnen kann, zu dem die 'Mutter' verschwunden sein und die andere an ihrer Stelle triumphieren wird als die Unfruchtbare, in der die Idee der Mutterschaft erloschen ist. Was hierbei die Lust repräsentiert, ist genau das Gegenteil von dem, was die Mutterschaft repräsentiert. Die vom Mütterlichen befreite Sinnlichkeit. Eine Frau, die sich jedermann ganz 'hingibt', befreit mit einem Schlag die Gesellschaft von zwei Relikten: vom Mann als Vater und von der Frau als Mutter." Hat Sgalambro Recht? Ich denke, die Wirklichkeit hat seine Ansichten längst widerlegt.

Für den Zürcher Psychoanalytiker Mario Erdheim ist dagegen alles ebenso schwer verständlich, was wir von Weininger über die Frauen vernehmen "wie die aztekischen Mythen, wo wir lesen, dass Menschen geopfert wurden, um die Sonne zu speisen."

Wir müssen uns in Weiningers Zeit versetzen, in das Wien des beginnenden 20.Jahrhunderts, das ganz dazu angetan war, einem Menschen wie Otto Weininger durch die zunehmende Unverbindlichkeit der Werte Schwindel und Angst zu machen, einem Menschen, der als "Mann ohne Eigenschaften" nicht zu leben vermochte, weil er fest daran glaubte, dass "der Wille zum Wert" den Menschen als solchen konstituiert. (Über die letzten Dinge" S.15)

Weininger schreibt als Zeitgenosse sowohl des "Kreises um Stefan George" wie der deutschen Wandervogelbewegung mit ihrer von Anfang an dominierenden Homoerotik und Antifeminität. Weininger ist als gesellschaftliche Erscheinung nicht abseitig, sondern repräsentativ. Er steht dem geistigen Range nach zwischen Nietzsche und Spengler und ist in seiner Nostalgie auch ein Zeitgenosse des "Peter Camenzind" von Hermann Hesse.

Sein Anschauungsmaterial über das Weib hat er der städtischen Bürgerwelt entnommen, wo die Antithese "Magd oder Megäre" bisweilen anzutreffen sein mochte mitsamt der "Erziehungsdiktatur durch den bürgerlichen Mann." Zumindest waren Bauern- und Arbeiterfrauen für Weiningers Analysen nie in Betracht gekommen. Er war ein Repräsentant etablierter Bildungstradition, die er bedroht wähnte vom Weib, vom Juden und vom kapitalistischen England.

Doch so viel steht wohl fest: Weininger gehörte zu jenen seismographischen Autoren der vorletzten Jahrhundertwende, in deren Werk sich die kommenden Umwälzungen, Krisen und Untergänge bereits ankündigten. Als apokalyptischer Fanatiker der Wahrheit und des ethischen Willens wollte er das Höchste und stand gegen ein Zeitalter, das ihm als das niedrigste erschien. Außerdem verkörperte er die Kierkegaardsche Kategorie des "Einzelnen", der sich der "nivellierenden Herrschaft des Sozialen" widersetzte, weil er in ihr eine existenzverkürzende Trivialisierung der Berufung des Menschen selbst, theologisch gesprochen, die Sünde erkannt hat. Auch wenn seine Sexualmetaphysik auf hybride Weise naturwissenschaftliche Befunde mit philosophischen Aussagen vermengt und von pubertären Verallgemeinerungen nicht frei ist, so bleibt Weininger, laut Kaltenbrunner, dennoch hochbedeutsam als unerbittlicher Kritiker einer aphrodisischen Zivilisation, die sich mit einer zur Wut gewordenen Emanzipierung des Fleisches über die Einsicht hinweg zu schwindeln versucht, dass Liebe das Unbehauste schlechthin auf dieser Erde ist.

Weiningers Fall ist ein Beitrag zum österreichischen Identitätsproblem und ganz gewiss zur Identität der österreichischen Literatur im 20.Jahrhundert. Natürlich eignet er sich nicht als Vorbild, da seine radikale Position allzu sehr der uns vertrauten menschlichen Normalität widerspricht. Gleichwohl verkörpert er die Möglichkeit als Asket des Lebens zur Welt "nein" zu sagen.

Weininger stand durchaus nicht genialisch einsam in seiner Zeit, wie er vermutet hatte.

Norbert Leser meint, dass es sich bei Weininger um ein antizipierendes Wesen gehandelt habe, "das modernen Erkenntnissen vorgearbeitet hat."

Er war nicht nur weit entfernt von einem flachen Fortschrittsoptimismus, er war zutiefst von der Tragik der menschlichen Existenz und vom 'radikal Bösen' in der menschlichen Natur und in sich selbst überzeugt. Doch blieb Weininger bei der Bejahung des 'radikal Bösen' im kantschen Sinne nicht stehen. Er schreckte nicht davor zurück, wiederholt den theologischen Begriff von der 'Erbsünde' heranzuziehen, um die metaphysische Dimension des Bösen, das in der Welt ist und in der eigenen Brust lauert, zu beschreiben. Im Grunde ist ja, meint Leser, das 'radikal Böse" eine säkularisierte Variante und philosophische Umschreibung des Ur-Tatbestandes, den die christliche Theologie als 'Erbsünde' bezeichnet. Weininger hielt die Erbsünde eben so wenig für etwas Punktuelles und in einer grauen Vorzeit Liegendes, wie die christliche Theologie die Schöpfung für einen bereits abgeschlossenen Vorgang hält, sondern für eine creatio continua. So heißt es bei Weininger:"Die Erbsünde erfolgt fortwährend: Ewiges und Zeitliches sind nebeneinander da. Unter den zeitgenössischen Philosophen ist es vor allem Leszek Kolakowski, der gleich Weininger die Lehre von der Erbsünde zum Angelpunkt seiner Philosophie macht. Er meint, dass einer jeden Utopie von der vollkommenen Erlösung eine kulturelle Gefahr innewohnt und .. uns die Lehre von der Erbsünde einen durchdringenden Einblick in das Schicksal des Menschen gewährt."

Kolakowski warnt davor, die Erbsünde zum alten Eisen zu werfen und so den wertvollen Vorsprung, den die Religion gegenüber den Allerweltsphilosophen unserer Tage hat, preiszugeben. Kolakowski bekennt sich dezidiert zur Lehre von der Erbsünde und damit zur Annahme einer metaphysischen Vorbelastung der Menschheit und des einzelnen Menschen. (Kann der Teufel erlöst werden in: "Leben trotz Geschichte". München -Zürich 1977.)

Weininger hat die Erbsünde nicht nur als metaphysische Realität anerkannt, sondern auch als moralische Last und Herausforderung empfunden. "Je größer die Gnade, die ein Mensch von Gott empfängt, desto größer das Opfer, das er Gott dafür bringen wird." (Über die letzten Dinge.)

Sein Denken war mit seiner Zeit nicht nur als Tagespolemik, sondern als Symptom und Symbol geistiger Werte verbunden (David Luft). Neben Arthur Schnitzler, Sigmund Freud, Karl Kraus, Robert Musil und Heimito von Doderer war es Weininger, der bedeutende Kritiken des Sexuallebens vorgetragen hat.

Die Originalität Weiningers beruht hauptsächlich auf der Fähigkeit, die Ängste seiner Zeit so intensiv als seine innersten Aufgaben zu fühlen und durch seine metaphysische Rationalisierung Abwehrmechanismen zu entwickeln, die niemand vor ihm in solchem Ausmaß konstruieren konnte.

Das Werk Weiningers lässt sich nicht nur durch den Wiener Kontext erklären. Ein Vergleich zwischen österreichischen, deutschen, französischen und italienischen Werken wäre diesbezüglich aufschlussreich. Nicht nur Wien, sondern ganz Europa wird um 1900 von dieser Frage nach der Sexualität verfolgt. Das Problem der Weiblichkeit, der Frau, ihrer Natur und ihrer Sensibilität alle männlichen Ängste in der Zeit dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges.


zurück vor auf uhomann@UrsulaHomann.de Impressum Inhaltsverzeichnis