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Jesus - Aufrührer gegen die jüdische Kirche

Am Anfang der Umwertung des Christentums steht, laut Nietzsche, das blutige Faktum des Kreuzes Jesu. Er beklagt, dass Jesus, der nicht schuld ist, "für den Schaden aufkommen" soll. Für Nietzsche ist Jesus der einzige Christ. Doch der starb am Kreuz den Opfertod. "Das Wort Christentum ist ein Missverständnis, im Grunde gab es nur einen Christen, und der starb am Kreuz."

In "Antichrist",, einem schrillen Pamphlet, von dem man sagt, es habe in Westeuropa wegen seiner rhetorischen Wucht, aber auch wegen seiner Argumente das Christentum traumatisiert, entwarf Nietzsche ein einfühlsames Bild Jesu, das den Eindruck erweckt, dass der Stoß seiner Kritik an Jesus vorbeigeführt werde. Nicht zufällig unterschrieb der Umnachtete seine Briefe abwechselnd mit "der Gekreuzigte" und "Dionysos." Für Nietzsche war Jesus die gesuchte Identifikationsfigur. Nach Thomas Mann hat Nietzsche die Person Jesu "von seinem Hass auf das Christentum unberührt gelassen." Ernst Benz nennt Nietzsche sogar den Lehrer der imitatio Christi. Es sieht so aus, sagt der katholische Theologe Eugen Biser, als habe Nietzsche einen Augenblick erwartungsvoll auf Jesus geschaut, bevor er sich endgültig in sich selbst verschloss.

In Nietzsches Augen ist Jesus von Nazareth ein Aufrührer gegen die jüdische Kirche. Er habe den Aufstand gegen die Kaste der Schriftgelehrten versucht und "ein Nein gesprochen gegen alles, was Priester und Theologe war."(Antichrist) Er hat die Ausgestoßenen und Sünder zum Widerspruch gegen die herrschende Ordnung aufgerufen und ist deshalb ans Kreuz genagelt worden. Dadurch, dass Nietzsche all das, was man heute als christlich bezeichnet, als Abfall vom wahren Christentum erweist, wird die Person Jesu selbst von der Belastung durch kirchliche Zutaten befreit. Nietzsche sucht, gleichsam die Dogmatisierung der Person Jesu rückgängig zu machen.

Indem er alle Versuche zu einer solchen bereits als Entstellung und Entartung erweist, erhebt er die Person Jesu um so deutlicher hervor. Je düsterer die Farben sind, in denen die Kirche und die Entwicklung des Christentums von der Zeit der Apostel an gemalt werden, um so heller und plastischer erscheint die Gestalt dessen, der nach der Nietzscheschen Auslegung in Wahrheit das Opfer der Kirche geworden ist und der erst von Paulus ans Kreuz geschlagen wurde, indem er ihn als Gottessohn ausgab, der als Sühneopfer für die Menschen starb. Nietzsche sieht die Kirche und das zeitgenössische Christentum als eine Entartung, ja als eine völlige Verkehrung des ursprünglichen Anliegens Jesu, er hält der Kirche als Maßstab ihres Abfalls das Bild Jesu vor Augen.

Benz: "So gründlich Nietzsches Verurteilung des Christentums und seiner geschichtlichen Darstellung in der christlichen Kirche ist, so gründlich versucht er, diese Lehre und diese Kirche von ihrem Anfang und Ursprung, von Jesus Christus abzutrennen und loszulösen, und zwar in einem so auffälligen Maße, dass es den Anschein hat, er suche die Person Jesu gerade von den Vorwürfen freizusprechen, mit denen er die Kirche belastet. Die Gestalt Christi erscheint bei ihm in einem um so klareren und reineren Licht, je düsterer, erbärmlicher und hassenswerter er die Geschichte der Kirche malt. Dies ist die eigentliche und meist übersehene Paradoxie des Bildes, das Nietzsche von der Kirche und vom Christentum entwirft. Er kämpft erbarmungslos gegen Kirche und Christentum und arbeitet mit fanatischem Eifer an seiner Vernichtung, aber er grüßt aus der Ferne den Ersten, auf den sich diese ihm so verhasste Kirche und dieses von ihm so verabscheute Christentum beruft, von dem er diesen Ersten befreien will."

Nur in seiner Jesus-Deutung scheint bei Nietzsche eine positive Bewertung des Prophetischen auf. In "Fröhliche Wissenschaft" hebt er Jesus als Lichtgestalt vom dunklen Hintergrund des Judentums ab. Jesus ist ein religiöser Künstler ähnlich dem griechischen Apoll, der die Versöhnung von Mensch und Gott feiert. Im Protest gegen die frühjüdische Vorstellung des zornigen Gottes "konnte Jesus seinen Regenbogen und seine Himmelsleiter träumen, auf der Gott zu den Menschen hinabstieg." Während die Priester als Erfinder einer Gegenwelt die Wirklichkeit verfälschen und entwerten, spiegelt Jesus als "Erfinder" einer Traumwelt die Wirklichkeit wider. Jesus wird hier für Nietzsche zum Prototypen seines eigenen Kampfes gegen jede jüdische und christliche Priesterreligion. Jesus tritt neben Zarathustra, als ein Übermensch, der überkommene Kulturwerte umstürzt und darum untergehen muss. Das neue Leben bewirkt durch seine Praxis und seine Verwirklichung die Aufhebung und Abschaffung aller Mächte des alten Lebens. Der Verwirklicher dieses Lebens wird damit notwendigerweise zum Feind der Moral, zum Feind des Dogmas, zum Feind der Hierarchie und des Gesetzes. Die ursprünglich christliche Einheit von Wahrheit und Leben ist das Gegenteil vom Dogma.

Was Nietzsche an Jesus schätzt, das ist die vollkommene Einheit von Erkenntnis und Leben. Seine Verkündigung zielt nicht auf seine Lehre ab, sondern erfüllt und verwirklicht sich ganz und gar in seinem Leben. "Der Wille zur Macht" und "Der Antichrist“ zeichnen ein vollkommen übereinstimmendes Bild. "Die Seligkeit ist nichts Verheißenes, sie ist da, wenn man so und so lebt und tut." Die Identität von Leben und Wahrheit wurde wirklich einmal gelebt und durch eine geschichtliche Persönlichkeit dargestellt. "Die Praxis des Christentums ist keine Phantasterei." Nietzsche lastet die Zerstörung der Einheit von Wahrheit und Lehre der Kirche an.

Diese Einheit wäre auch heute noch, so Nietzsche, realisierbar. "Das Christentum ist jeden Augenblick noch möglich." "Es ist an keines der unverschämten Dogmen gebunden, welche sich mit seinem Namen geschmückt haben, es braucht weder die Lehre vom persönlichen Gott noch von der Sünde, noch von der Unsterblichkeit, noch von der Erlösung, noch vom Glauben; es hat schlechterdings keine Metaphysik nötig, noch weniger den Asketismus, noch weniger eine christliche `Naturwissenschaft`. Das Christentum ist eine Praxis, keine Glaubenslehre. Es sagt uns, wie wir handeln, nicht was wir glauben sollen." Nietzsche versteht das Christentum als Zustand des "Himmelreiches in uns", als Zustand der gegenwärtigen Seligkeit. Dabei ist er kühner als seine Zeitgenossen, denn welcher Kirchenfürst seiner Zeit glaubte wirklich noch an die Möglichkeit und die Realisierbarkeit eines solchen Lebens? Das Himmelreich, für Nietzsche ein Zustand des Herzens, ist nichts, was "über der Erde ist". Das Reich Gottes kommt nicht chronologisch-historisch, nicht nach dem Kalender, es ist nicht etwas, das eines Tages da wäre und tags vorher nicht: sondern es ist eine "Sinnesänderung im Einzelnen", etwas, das jederzeit kommt und jederzeit noch nicht da ist.

"Es ist falsch bis zum Unsinn, wenn man in einem 'Glauben', etwa im Glauben an die Erlösung durch Christus, das Abzeichen des Christentums sieht: Bloß die christliche Praktik, ein Leben so wie der, der am Kreuze starb, es lebte, ist christlich." Wie im "Willen zur Macht" dieses Christsein in dem Zustand des "Himmelreich in uns" begründet wird, so wird auch im "Antichrist" diese Einheit des Lebens auf die Gegenwart des "Reiches Gottes" in uns begründet.

"Jesus von Nazareth liebte die Bösen, nicht die Guten, der Anblick von deren moralischer Entrüstung brachte selbst ihn zum Fluchen. Überall, wo gerichtet wurde, nahm er Partei gegen die Richter, er wollte der Vernichter der Moral sein."

Jesus als Vollbringer und Vollender des wahren Lebens und Vollstrecker der Praxis des Himmelreiches in uns - das ist für den Philosophen der innerste Kern seiner Anschauung vom Christentum, und das ist der positive Ausgangspunkt seines Kampfes gegen die Kirche. Die Kirche in ihrer heutigen Gestalt hielt er für das Ergebnis eines fortschreitenden Abfalls der Jünger Christi von ihrem Meister, für das Ergebnis einer Umdeutung und Verfälschung, die schließlich das Gegenteil des ursprünglich Gewesenen und Gewollten verwirklicht. "Die Kirche ist exakt das, wogegen Jesus gepredigt hat - und wogegen er seine Jünger kämpfen lehrte." Jesus: Dieser frohe Botschafter starb, wie er lebte, wie er lehrte, nicht um die Menschen zu erlösen, sondern um zu zeigen, wie man zu leben hat.

Jesus beherrscht den tiefen Instinkt dafür, "wie man leben müsse, um sich "im Himmel zu fühlen, um sich "ewig" zu fühlen. Dieser Glaube formuliert sich nicht, er lebt, er wehrt sich gegen Formeln. Sein Leben ist Liebe, er macht keinen Unterschied zwischen Juden und Nichtjuden, schätzt keinen Menschen gering. Für ihn gibt es keine Gegensätze, weder Strafe noch Schuld, jedwedes Distanz-Verhältnis zwischen Gott und Mensch ist bei Jesus für Nietzsche abgeschafft.

Nietzsches zeichnet von Jesus ein erstaunliches Bild. Man kann natürlich daran zweifeln, ob hier noch von historischer Realität die Rede ist. Aber das Urchristentum wird zu allen Zeiten möglich sein", das zeigte auch Franz von Assisi. "Eine Christlichkeit ohne die absurden Dogmen". Man hat Christus umgedeutet und mit fremden Zutaten umkleidet. Die Evangelien, das gesamte Neue Testament ist eine Verkehrung. Während Jesus eine Lebenspraxis verwirklichte, kam es nach ihm nur auf einen Glauben an. Das Christsein auf ein Fürwahrhalten reduzieren, heißt die Christlichkeit negieren. Während Jesus sich wie Buddha von den Menschen unterschied durch ein anderes Handeln, unterschieden sich die Christen von Anfang an durch einen anderen Glauben. Dieser wurde Lehre, lauter Formeln, Riten, Dogmen statt einer Praxis des Lebens. Statt des wirklichen Jesus wurde ein Bild Jesu aufgestellt:der Fanatiker, der Kämpfende, der Angreifer gegen die Priester und Theologen - in der Interpretation von Paulus erschien er in der Gestalt des Erlösers, von der eigentlich nur Tod und Auferstehung wichtig waren. Nach dem Tod Jesu vollzog das entstehende Christentum seine erste Umfälschung, die der Wirklichkeit Jesu. Die Lehre von Auferstehung und Gericht seien Jesus, so Nietzsche, ganz fremd gewesen. "Das Evangelium starb am Kreuz. Was von diesem Augenblick an Evangelium heißt, war bereits der Gegensatz dessen, was er gelebt, eine schlimme Botschaft, ein Dysangelium."


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