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Lange hat der große Humanist die braune Gefahr verkannt

Zum 125.Geburtstag von Stefan Zweig

Die Bücher von Stefan Zweig gehören zu den stärksten Leseeindrücken meiner Jugend. Wenige Jahre nach dem Krieg war unsere Familie aus der damaligen Ostzone in die gerade entstehende Bundesrepublik übergesiedelt, und ich begann, mit Hilfe der hiesigen städtischen Bücherei, Werke jener Autoren für mich zu entdecken, die im Hitler-Reich verfemt und verboten waren, neben Thomas Mann, Joseph Roth, Oskar Maria Graf, Lion Feuchtwanger vor allem Stefan Zweig. Oft dachte ich bei der Lektüre all dieser Bücher, wie armselig, engstirnig und kleinkariert wäre mein Weltbild doch ausgefallen, hätte ich mir nur den von den Nazis geduldeten Lesestoff zur Gemüte führen dürfen. Von Stefan Zweig indes war ich so angetan, dass ich ein Buch nach dem anderen von ihm verschlang, und zwar so ausgiebig und so lange, bis ich eines Tages dieses Schriftstellers ein wenig überdrüssig zu werden begann. Eines seiner Bücher hat mich allerdings durch alle die Jahre und Jahrzehnte hindurch begleitet, nämlich "Die Welt von Gestern. Erinnerungen eines Europäers". Ich zog den Band immer dann zu Rate, wenn ich wissen wollte, was in der Lebenszeit von Stefan Zweig dann und dann geschah und wie er die einzelnen Ereignisse und seine Zeitgenossen eingeschätzt hat.

In diesem Jahr werden wir am 28.November des 125.Geburtstages von Stefan Zweig gedenken, zweifellos ein guter Anlass, sich wieder einmal mit dem österreichischen Schriftsteller und seinen Büchern zu befassen.

Geboren wurde Stefan Zweig in Wien im Jahr 1881 als Sohn einer großbürgerlichen jüdischen Familie. Rückblickend schreibt Stefan Zweig: "Ich weiß mir inmitten der Unzähligen keinen anderen Vorrang zuzusprechen als den einen: als sterreicher, als Jude, als Schriftsteller, als Humanist und Pazifist."

Bereits auf dem Gymnasium verfasste er unter dem Einfluss der Werke von Hugo von Hofmannsthal und Rainer Maria Rilke erste Gedichte. Später studierte er in Wien und in Berlin Philosophie, Germanistik und Romanistik und promovierte mit dem Thema "Die Philosophie des Hippolyte Taine" 1904 zum Doktor der Philosophie. Anton Kippenberg, der Inhaber des Insel-Verlags, förderte früh das vielseitige schriftstellerische Talent des jungen Akademikers. 1910 veröffentlichte Zweig seine erste Monographie "Emile Verhaeren" und fand ein Jahr später mit "Erstes Erlebnis. Vier Geschichten aus Kinderland" zu seinem psychologisch intuitiven Stil. Außerdem entstanden zahlreiche Feuilletons, Erzählungen und Dramen wie "Tersites", "Das Haus am Meer", die Novelle "Brennendes Geheimnis" und andere Werke.

Während des Ersten Weltkriegs leistete Zweig als Freiwilliger Dienst im Kriegsarchiv des Kriegsministeriums. Zuerst hatte er, obwohl er von Jugend an ein überzeugter Europäer und Kosmopolit war und nie national empfunden hatte, Ausbruch und Ziele des Krieges durchaus bejaht. Nachdem er jedoch 1915 bei einer Erkundungsfahrt durch Galizien mit dem Leid und dem Tod verwundeter Soldaten konfrontiert worden war, änderte er seine Meinung. Heimlich traf er sich mitten im Krieg mit dem französischen Dichter Romain Roland, der für Frieden und Völkerverständigung eintrat und dessen pazifistische Weltsicht Zweig übernahm. 1917 wurde Zweig vom Militärdienst beurlaubt und schließlich endgültig "enthoben".

In dieser Zeit dichtete er sein pazifistische Drama "Jeremias", in dem er den Untergang Jerusalems und das babylonische Exil in einen übergeschichtlichen Heilszusammenhang rückte und sich öffentlich zur Gemeinschaft und Mission seines Volkes bekannte, das, seiner Überzeugung nach, dazu berufen war, die Ideale einer völkerübergreifenden Humanität weiterzutragen und bei allen Menschen wirksam werden zu lassen. Allerdings hat er, als er das Leidensprogramm für das jüdische Volk am Schluss seines Dramas bekräftigte, noch nicht ahnen können, in welch furchtbarem Ausmaß sich dieses im 20.Jahrhundert erfüllen würde, wodurch es in den Augen mancher Juden, gläubiger und nichtgläubiger, ad absurdum geführt wurde.

Nach dem Krieg bezog Stefan Zweig in Salzburg sein legendäres Haus am Kapuzinerberg, das bald eine umfangreiche Bibliothek und eine berühmte Autographensammlung beherbergen sollte, und heiratete Friderike von Winternitz.

Berühmt und erfolgreich wurde er in diesen Jahren nicht nur durch Romane und zahlreiche Erzählungen wie "Amok", "Angst", "Verwirrung der Gefühle", "Der Zwang" und "Der Flüchtling", sondern auch durch brillante historische Miniaturen und biographische Werke. "Marie Antoinette" war Zweigs erste historische Biografie. Die großen Gestalten der europäischen Vergangenheit wie Dickens, Balzac, Dostojewski, Hölderlin, Tolstoi und andere finden sich in seinem dreiteiligen Werk zu "Baumeistern der Welt" vereinigt. Mit der Bearbeitung von Ben Jonsons Komödie "Volpone" gelang Zweig 1926 sogar sein größter Bühnenerfolg. Es folgte "Sternstunden der Menschheit", sicherlich eines der am meisten gelesenen Bücher von Stefan Zweig. Auf Vermittlung von Maxim Gorki erschien bald die erste Gesamtausgabe seiner Bücher auch auf russisch. Kurzum, Ende der zwanziger Jahre war Stefan Zweig einer der erfolgreichsten deutschsprachigen und am meisten übersetzten Autoren.

Aus vielen seiner Texte geht deutlich hervor, wie selbstlos der Schriftsteller fremde geistige Größen bewundert und im schöpferischen Mensch die höchste Idee der Menschheit gesehen hat. Zu den schöpferischen Menschen zählte er auch Pioniere und Entdecker wie Magellan sowie Techniker und Wissenschaftler wie Amerigo. Lange Zeit war er von dem optimistischen Glaube an die Selbstherrlichkeit des autonomen Menschen beseelt. Allerdings war sein bürgerlicher Humanismus noch völlig vordemokratisch.

Zweig kannte viele Größen seiner Zeit, zum Beispiel Theodor Herzl. "Er war der erste Mann welthistorischen Formats, dem ich in meinem Leben gegenüberstand - freilich ohne selbst zu wissen, welche ungeheure Wendung seine Person im Schicksal des jüdischen Volkes und in der Geschichte unserer Zeit zu erschaffen berufen war", bekannte Zweig später. Mit nicht wenigen war er befreundet, zum Beispiel mit Felix Braun, mit Walther Rathenau, Hans Carossa und Joseph Roth. Ein großes Erlebnis war für ihn der Besuch im Atelier Rodins.

Allerdings hielt Zweig in erster Linie Kontakt zu Schriftstellern, die sich der Tradition verpflichtet fühlten. Wichtige Autoren der Nachkriegszeit, Franz Kafka und Bert Brecht und andere moderne Literaten wie Gottfried Benn, T.S.Eliot, Ezra Pound hat er offensichtlich genauso wenig beachtet wie etwa den im 19.Jahrhundert wirkenden und auch politisch engagierten Dichter Heinrich Heine.

Oft verbrachte Stefan Zweig mehrere Monate des Jahres auf Reisen. Mitunter überfiel ihn ein geradezu ahasverischer Wandertrieb. Schon mit achtundzwanzig Jahren reiste er fünf Monate lang durch Indien, Ceylon, Burma und Indochina.

Geraume Zeit wollte Stefan Zweig die aufkommende Gefahr, die im Nachbarland Deutschland Ende der zwanziger und Anfang der dreißiger Jahre von der immer stärker werdenden Nazipartei ausging, nicht wahrhaben. Auch war er sich lange Zeit nicht darüber im klaren gewesen, dass seine Existenz als österreichischer Jude von nun an mehr und mehr ins Wanken geriet. Nach den Septemberwahlen 1930, als die NSDAP von mehr als sechs Millionen deutscher Staatsbürger gewählt und nach der SPD die stärkste Fraktion im Reichstag geworden war, erblickte Zweig im Wahlergebnis lediglich den Ausdruck einer doch eigentlich erfreulichen "Revolte der Jugend gegen die hohe Politik."

Selbst nachdem die nationalsozialistische Bedrohung aus dem Nachbarland immer spürbarer geworden war, meinte er noch am 13.Februar 1933 in einem Brief an seinen amerikanischen Verleger Ben Huebsch: "Die Unruhe ist groß, obwohl gar nichts eigentlich zu fürchten ist... ich nehme diese Dinge nicht sehr ernst. All das läuft sich nach einigen Jahren tot, und das Publikum liest immer nur was es lesen will, nicht was von irgendeiner äußern Stelle ihm aufgedrängt wird." - "Nur zum Spaß" schicke er ihm hier eine jener "Hetznotizen" gegen ihn, "die durch die ganze nationale Presse wandert". Dass eine gewisse Stockung beim Verkauf seines letzten Buches eingetreten sei, das habe nichts damit zu tun, dass er Jude sei, "nein, nein, das betrifft die Bücher überhaupt".

Zweig will das Unglück partout nicht sehen, und als Goebbels in einer viel beachteten Rede den "Juden Zweig" beschimpft, schreibt Stefan Zweig aufgeregt Brief um Brief mit dem Hinweis, dass Goebbels sicherlich den Juden Arnold Zweig wegen seiner linken politischen Ansichten im Sinn gehabt habe und nicht ihn, den assimilierten, unpolitischen Juden Stefan Zweig, der in Deutschland wohl nichts zu befürchten habe. Doch welch einem Irrtum war der Schriftsteller dabei erlegen! Er wird nicht verwechselt, weil er Zweig heißt, er wird verwechselt, weil er Jude ist.

Tatsächlich gelingt es ihm, mit Hilfe von Richard Strauss, für den er das Libretto zur Oper "Die schweigsame Frau" verfasst hatte, eine Notiz im Nazi-Organ "Völkischer Beobachter" zu platzieren. Damit war ihm nur ein kurzer, kleiner, nutzloser Teilerfolg beschieden gewesen, der seine Blindheit nur verlängerte. Dabei gab es einen Menschen in seiner Nähe, der unermüdlich darum bemüht war, ihm die Augen für die Gefahren von Gegenwart und Zukunft zu öffnen: sein Freund Joseph Roth. Roth hatte wie nur wenige sofort die Konsequenzen vom 30.Januar 1933 erkannt und Stefan Zweig schon im Februar 1933 brieflich ermahnt: "Inzwischen wird Ihnen klar sein, dass wir großen Katastrophen zutreiben. Abgesehen von den privaten - unsere literarische Existenz ist ja vernichtet - führt das Ganze zum neuen Krieg. Ich gebe keinen Heller mehr für unser Leben. Es ist gelungen, die Barbarei regieren zu lassen. Machen Sie sich keine Illusionen. Die Hölle regiert." Aber Stefan Zweig glaubte ihm anfangs kein Wort und nahm gegenüber dem Nationalsozialismus weiterhin eine abwartende Haltung ein. Nicht einmal, als 1933 in Deutschland seine Bücher verbrannt wurden und der Insel-Verlag sich weigerte, noch etwas von ihm zu drucken, protestierte er. Seine Biografie des großen Humanisten Erasmus von Rotterdam, die gleichzeitig eine Rechtfertigung seiner Haltung sein sollte, sowie "Castellio gegen Calvin oder Ein Gewissen gegen Gewalt" erscheinen nicht mehr im Insel-Verlag in Deutschland, sondern vor dem "Anschluss" sterreichs 1938 in Wien. In diesen Büchern fordert Zweig dazu auf, Geschichte als Mahnung für die eigene Epoche zu begreifen.

Als aber 1934 die österreichische Polizei sein Haus in Salzburg nach Waffen durchsuchte, deutete der Schriftsteller diesen Schritt als persönlichen Affront und reiste unverzüglich ins Exil - mit seiner Sekretärin Lotte Altmann, die er dann nach der Scheidung von seiner Frau Friderike 1939 geheiratet hat. Zunächst reist er nach London, dann nach Bath, später nach New York, von dort nach Argentinien, Paraguay und Brasilien, wo er sich schließlich in Petropolis bei Rio de Janeiro niederlässt.

Im Exil geht sein psychischer Verfall rapide vor sich. Erstaunlicherweise findet er trotzdem die Kraft, sein literarisches Werk fortzusetzen, und so entstehen neben vielen Erzählungen die Biografie über "Maria Stuart" und sein Roman "Ungeduld des Herzens". 1941 kommt die "Schachnovelle" heraus und 1942 seine Autobiographie "Die Welt von Gestern". Anlässlich seines Montaigne-Buches, an dem er zuletzt arbeitete, bekennt er Hermann Kesten gegenüber, dass ihn vor allem eines interessiere: "Wie bleibe ich frei, wie erhalte ich die Klarheit des Hirns in einer herzlosen und fanatisierten Zeit?" Das geplante Buch über "Balzac" bleibt allerdings unvollendet. Selbst noch im Exil gilt Stefan Zweig als der meist übersetzte deutschsprachige Autor. Er darf auch auf Tantiemen seiner ausländischen Verleger hoffen. Dennoch leidet er unter der Ohnmacht des Exilanten.

Döblin schreibt im Januar 1942, keiner habe jetzt zu lachen - es sei denn "solche dem Schicksal trotzenden Heroen wie Stefan Zweig, der unter jedem Klima blüht.."

Als Stefan Zweig 1939 von Ernst Tollers Selbstmord erfahren hatte, sagte er noch: "Das ist der falsche Weg!" Doch am 22.Februar 1942 sahen auch er und seine zweite Frau Lotte keinen anderen Ausweg mehr als den Selbstmord. Mit einer Überdosis Veronal schieden sie aus dem Leben. Auf seinem Schreibtisch hatte er folgende Zeilen zurückgelassen: "Ich grüße alle meine Freunde! Mögen sie die Morgenröte noch sehen nach der langen Nacht. Ich, allzu Ungeduldiger, gehe ihnen voraus!"

Acht Schriftsteller trugen den Sarg Stefan Zweigs, hinter ihnen schritten die Rabbiner, die aus Rio de Janeiro gekommen waren. Noch kurz vor seinem Tod hatte Stefan Zweig Franz Werfel eingeladen, ihn im Sommer zu besuchen mit dem Hinweis, Werfel werde in Brasilien weit größere Anregungen finden als in Hollywood. Zu diesem Besuch war es nun nicht mehr gekommen. "Entsetzlich! Er hat uns verzweifelte Briefe geschrieben, die ich leider nicht recht ernst genommen habe", teilte Werfel seiner Mutter mit, und in einer Trauerrede, die Werfel in einer Synagoge von Los Angeles hielt, betonte er, Zweigs Selbstmord erscheine ihm deshalb so unbegreiflich, weil sein Freund mit dieser Tat ja dem Erzfeind zu einem Triumph verholfen habe.

Der Freitod Zweigs erschütterte die deutschen Emigranten so stark, dass sich Carl Zuckmayer genötigt fühlte, sie in einem "Aufruf zum Leben" zu bitten, auf anscheinend verlorenem Posten auszuharren. Thomas Mann verstand Zweigs Freitod sogar als Pflichtverletzung der Emigrantensolidarität.

Was aber für ein Mensch war Stefan Zweig?

Einer, der das Leben liebte", lautet eine Aussage seines Freundes Felix Braun, - einer, der kein Interesse an metaphysischen Fragen hatte und seinem Tagebuch anvertraute: "Ich bin ganz ohne metaphysische Neugier, ganz im Gegenwärtigen verankert." Seine Religion war der Glaube an den Menschen und seine Heimat die Weltliteratur. Das Wesentlichste war ihm überdies, erinnerte sich seine Frau Friderike, "die größtmögliche Gewährleistung Individueller Freiheit." Von sich hat Zweig einmal gesagt: "Mich selbst hat das Schicksal mit einem harten Auge und einem weichen Herzen geschlagen - diese Mischung ist entsetzlich."

Auf jeden Fall war er ein guter Dokumentarist des jüdischen Schicksals und der jüdischen Situation seiner Zeit. Man lese nur die ersten Kapitel seines Buches "Die Welt von Gestern." Sie bezeugen eindrucksvoll, wie Ruhm, Wille zum Berühmtwerden die Jugend, vorzugsweise die jüdische Generation zu Zweigs Zeit beherrscht hat. Er habe, gesteht Zweig in seinem Erinnerungsbuch, ein Judentum vor Augen gehabt, "das sich von allen Defekten und Engheiten und Kleinlichkeiten, die das Ghetto Juden aufgezwungen, durch Anpassung an eine andere Kultur und womöglich eine universale Kultur befreit hat oder zu befreien beginnt."

"Nun ist die Anpassung an das Milieu des Volkes oder des Landes, inmitten dessen sie wohnen, für Juden nicht nur eine äußere Schutzmaßnahme", meint er weiter, "sondern ein tief innerliches Bedürfnis." Ihr Verlangen nach Heimat, nach Ruhe, nach Rast, nach Sicherheit, nach Unfremdheit dränge sie, sich der Kultur ihrer Umwelt leidenschaftlich zu verbinden. Außerdem vermehrten Juden das Maß von Menschlichkeit, Verständnis und Toleranz in der Welt.

"Dass diese Flucht ins Geistige durch eine überproportionierte Überfüllung der intellektuellen Berufe dem Judentum dann ebenso verhängnisvoll geworden ist", erkennt er schließlich auch, "wie vordem seine Einschränkung ins Materielle gehört freilich zu den ewigen Paradoxien des jüdischen Schicksals."

Zweigs "Die Welt von Gestern" macht freilich auch deutlich, dass der Verfasser dieses Buches eigentlich nicht mitten in der Welt, sondern nur an ihrem Rande gelebt hat. Er sah nicht die schlimmen und verhängnisvollen Ereignisse der Nachkriegszeit, weder die Arbeitslosigkeit, noch den Antisemitismus, den in Deutschland ein Treitschke "salonfähig" gemacht hatte, der in Frankreich die Dreyfus-Affäre auslöste, und in sterreich um die Jahrhundertwende mit der Lueger-Schönerer Agitation einsetzte, die dann zur Wahl Luegers zum Bürgermeister von Wien führte. Zweig indes schildert Lueger als einen freundlichen Mann, der seinen jüdischen Freunden immer treu geblieben sei. Sein offizieller Antisemitismus habe ihn nie daran gehindert, "seinen früheren jüdischen Freunden wohlgesinnt und gefällig zu bleiben."

Zweig, der Luegers Antisemitismus ebenso wenig ernst nahm wie viele seiner Zeitgenossen, mit Ausnahme jenes "verrückten" Feuilletonredakteurs Theodor Herzl, wollte nicht wahrhaben, dass der Antisemitismus nicht nur ein Programmpunkt der christlich-sozialen Partei war, sondern dass er auch mehr und mehr die öffentliche Meinung vergiftete.

Zudem verkannte Zweig die Probleme des Vielvölkerstaats und hatte keinen Blick für Wirtschaftskrisen und Klassengegensätze. Er unterschätzte die Gefahren des aufkommenden Irrationalismus. Daher beschreibt sein Erinnerungsbuch eine fast heile Welt mit nur einigen wenigen dunklen Stellen. Vor allem hielt er sich nicht für befugt, zu politischen und sozialen Fragen Stellung zu nehmen. Stets lehnte er es ab, sich "in Politik hineinzerren" zu lassen.

"Tschechen und Deutsche, Juden und Christen wohnten trotz gelegentlicher Hänseleien friedlich beisammen.. selbst als Lueger als Führer der antisemitischen Partei Bürgermeister der Stadt wurde, änderte sich im privaten Verkehr nicht das Mindeste, und ich persönlich muss bekennen, weder in der Schule, noch auf der Universität, noch in der Literatur jemals die geringste Hemmnis oder Missachtung als Jude erfahren zu haben", bekennt er und schreibt weiter:

"Wir blickten nur auf Bücher und Bilder. Wir hatten nicht das geringste Interesse für politische und soziale Probleme.. Wir sahen nicht die feurigen Zeichen an der Wand und tafelten wie weiland König Belsazar unbesorgt von all den kostbaren Gerichten der Kunst, ohne ängstlich vorauszublicken. Und erst als Jahrzehnte später Dach und Mauern über uns einstürzten, erkannten wir, dass die Fundamente längst unterhöhlt gewesen waren und mit dem neuen Jahrhundert zugleich der Untergang der individuellen Freiheit in Europa begonnen hatte."

Gleichwohl hat Stefan Zweig, insbesondere Martin Buber gegenüber, Herzls zionistisches Konzept nie bejaht, sondern immer nur für die Diaspora plädiert, die er als bestes geistiges Vaterland verstand. Denn seiner Überzeugung nach bot die Diaspora Juden unverkennbare Chancen, die sie sich durch ihren Zusammenschluss in einem jüdischen Staat verspielen würden. Das Judentum solle sich nicht in der "Concurrenz der Realitäten" erniedrigen, schrieb er am 24.Januar 1917 an Martin Buber. Er selbst liebe die Diaspora und bejahe sie als "den Sinn seines Idealismus, als seine weltbürgerliche allmenschliche Berufung. Und ich wollte keine andere Vereinigung als im Geist.."

Selbstverständlich und natürlich erschienen ihm daher die spirituellen Aufgaben und Verpflichtungen der Juden. Durch ihre Geschichte und ihr Schicksal seien diese nicht fest verknüpft mit einem bestimmten Land oder mit einer bestimmten Sprache. Juden seien international, ihr Vaterland sei universaler, geistiger Natur. Während ihrer langen Wanderschaft hätten sie ein besonderes Talent entwickelt, das sie dazu befähige, durch neue Ideen den allgemeinen Fortschritt zu fördern und innerhalb ihrer Länder den zerstörerischen Kräften des Nationalismus entgegenzuarbeiten. Da sie also Weltbürger sind und sein müssen, widerspricht, nach Zweigs Meinung, jede Form des jüdischen Nationalismus ihrer eigentlichen historischen Bestimmung.

"Für mich ist es der Ruhm und die Größe des jüdischen Volkes, das einzige zu sein, das nur eine geistige Heimat, ein ewiges Jerusalem anstrebt.. Für mich ist es die Größe des Judentums, übernational zu sein."

Im Exil musste er freilich erkennen, dass er wider Willen Zeuge "der furchtbarsten Niederlage der Vernunft und des wildesten Triumphes der Brutalität innerhalb der Chronik der Zeiten" geworden war. "Nie hat eine Generation einen solchen moralischen Rückfall aus solcher geistigen Höhe erlitten wie die unsere", klagte er und fügte hinzu, das Tragischste in dieser jüdischen Tragödie des zwanzigsten Jahrhunderts sei, dass, die sie erlitten, keinen Sinn mehr in ihr finden konnten und keine Schuld. "All die Ausgetriebenen der mittelalterlichen Zeiten, ihre Urväter und Ahnen, sie hatten zumindest gewusst, wofür sie litten: für ihren Glauben, für ihr Gesetz. Sie besaßen noch als Talisman der Seele, was diese heute längst verloren, das unverbrüchliche Vertrauen in ihren Gott."

Schon längst bildeten die Juden des zwanzigsten Jahrhunderts keine Gemeinschaft mehr. Sie hätten keinen gemeinsamen Glauben und empfänden ihr Judesein eher als Last denn als Stolz und seien sich keiner Sendung mehr bewusst.

Vielleicht ist es gerade des Judentums letzter Sinn, grübelte er weiter, "durch seine rätselhaft dauernde Existenz Hiobs ewige Frage an Gott immer wieder zu wiederholen, damit sie nicht völlig vergessen werde auf Erden."

Wie viele seiner jüdischen Zeit- und Leidensgenossen - man denke nur an Margarete Susmans "Das Buch Hiob und das Schicksal des jüdischen Volkes " - erschien auch ihm das jüdische Volk, wie schon aus einer Tagebucheintragung aus dem Jahre 1915 hervorgeht, als der "Hiob unter den Völkern."

Alles in allem, hat Zweig seine eigene jüdische Herkunft seit seiner Kindheit durchaus akzeptiert, obwohl er in einer assimilierten Familie ohne jede religiöse Erziehung aufgewachsen ist. Seine Identität als Jude war ihm etwas Selbstverständliches und Natürliches. Er fühlte sein Judentum, so formulierte er einmal, "ebenso wie ich meinen Herzschlag fühle, wenn ich daran denke und ihn nicht fühle, wenn ich nicht daran denke." Harry Zohn, jüdischer Literaturwissenschaftler und Mitbegründer der "Internationalen Stefan-Zweig-Gesellschaft" glaubt sogar, dass "der Urquell der Kunst und des Wirkens dieses Schriftstellers" im wesentlichen jüdisch gewesen sei und "sein Leben in Triumph und Tragödie ein beispielhaftes jüdisches Schicksal unserer Zeit."

Dennoch hat der Kosmopolit Stefan Zweig die Fremde, die Trennung von Goethes Kultur, der er sich im Grunde mehr verbunden fühlte als dem Judentum, auf die Dauer nicht ausgehalten. Er glaubte auch nicht, dass er der Zukunft selbst nach dem Ende des Naziterrors noch helle Seiten abgewinnen könne und schrieb in diesem Sinne an Carl Zuckmayer: "Wie auch immer der Krieg ausgeht, es kommt eine Welt, in die wir nicht mehr hineingehören. Wir sind doch nur Gespenster oder Erinnerungen", und an seinen Schriftstellerfreund Felix Braun richtete er hellsichtig folgende Zeilen: "Wir alle, Felix, werden ja in der nächsten Generation schon Curiosa sein, letzte Exemplare einer ausgestorbenen Rasse, homo austriaco-judaicus."

Ob Stefan Zweig recht behält oder behalten wird, darüber werden die heutigen und nächsten Generationen zu befinden haben. Gegenwärtig sind zumindest die Bücher von Stefan Zweig allen Unkenrufen zum Trotz noch nicht in Vergessenheit geraten. Sie sind zwar kein "Renner" mehr wie zu seiner Zeit, aber die Nachfrage nach ihnen hält an, sowohl in den Büchereien wie auch in den Buchläden. Eine Ausnahme bildet vielleicht die ganz junge schulpflichtige Generation, die den jüdischen Schriftsteller oft nicht einmal dem Namen nach kennt und ihn erst noch für sich entdecken muss. Doch sprechen die unverändert hohen Auflagenzahlen seiner Schriften beim Fischer-Verlag, insbesondere im Taschenbuchverlag, für sich - und das gut so, denn die Lektüre der Bücher von Stefan Zweig lohnt sich allemal.

Der Beitrag erschien in "Tribüne. Zeitschrift zum Verständnis des Judentums", 45.Jahrgang, Heft 179, 3.Quartal 2006, und

in "literaturkritik.de" Nr.11 November 2006, 8.Jahrgang.


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