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Frankfurt und seine Judengasse

Seit Beginn des 15.Jahrhunderts reglementierte in Frankfurt der Rat der Stadt das Leben der Juden durch zahlreiche Vorschriften. 1460 entschloss sich der Rat auf Drängen von Kaiser Friedrich III. und der Kirche, die Juden aus den Straßen am Dom in eine winzige entlegene Gasse umzuquartieren. Daraufhin wurde am Wollgraben, dem städtischen Abwasserkanal gegenüber der alten staufischen Stadtmauer in einem wenig bewohnten Teil der damaligen Neustadt, eine zweite Mauer errichtet. So entstand zwischen den beiden Mauern eine knapp 300 Meter lange und drei bis 4,5 Meter breite Gasse - von den Juden "Neu-Ägypten" genannt - mit drei Toren, die nachts und an Sonn- und Feiertagen geschlossen wurden. Hier lebte fortan bis zum Einmarsch der Truppen Napoleons die jüdische Gemeinde mit all ihren Einrichtungen und unterschiedlichen Menschen: Erwachsene und Kinder, Kranke und Gesunde, Arme und Reiche; Hausierer unmittelbar neben Hoffaktoren und den Baruchs, Sterns, Schönbergs und Rothschilds, deren Begründer Meyer Amschel Rothschild in der Judengasse, im Wohnhaus "Zum toten Schild", geboren wurde. Auch berühmte Schriftgelehrte und Rabbiner stammten von dort. Erwähnt sei nur der Dichter Ludwig Börne (1786-1837), der ursprünglich den Namen Löb Baruch trug. Anfangs wohnten in der Judengasse ungefähr 100 Bewohner in 15 Häusern, um 1560 waren es bereits über 1.000 in 77 Häusern (Frankfurt hatte zu diesem Zeitpunkt insgesamt ungefähr 12.000 Einwohner) und um 1600 ungefähr 2.700. Das Anwachsen der jüdischen Bevölkerung führte, wie man sich denken kann, zu einer immer dichteren Bebauung der Gasse.

Während Juden ihr Ghetto möglichst nicht verlassen sollten, wurden Christen freundschaftliche oder gesellige Beziehungen mit Juden untersagt. Die weltlichen Machthaber fürchteten wohl auch Übergriffe des Pöbels auf Juden, und diese wiederum fühlten sich in der Zeit der Verfolgungen hinter Mauern und geschlossenen Toren sicherer als außerhalb. Auf diese Weise überlebte die Frankfurter Judengemeinde die Vertreibungen des 16.Jahrhunderts, die mörderischen Umtriebe des Judentäuflings Pfefferkorn und Ritualmordbezichtigungen. Die besonnene Haltung des Rates und eine Reihe günstiger Konstellationen in Krisensituationen sorgten mit dafür, dass Frankfurt eine Art Bollwerk des deutschen Judentums wurde. Zugleich entwickelte sich die Mainmetropole zum Anziehungspunkt für Juden aus dem Umkreis, die im 16.Jahrhundert in großer Zahl aus den benachbarten Orten im Rhein-Main -Gebiet und aus Süddeutschland hierher kamen, entweder weil man sie aus den Städten und Territorien des Reiches vertrieben hatte oder weil sie von den wirtschaftlichen Chancen, die Frankfurt bot, angelockt wurden. Der stark verschuldete Rat duldete die Einwanderung, da ihm die Steuern der eingewanderten Juden eine zusätzliche Einnahmequelle bescherten.

Um 1612 erschütterten heftige Auseinandersetzungen zwischen der Bürgerschaft und dem Rat die Stadt. Die Bürger verlangten die Reduzierung des von den jüdischen Geldverleihern geforderten Zinssatzes. Als die Konflikte eskalierten, überfielen Frankfurter Bürger und Handwerksgesellen unter Führung des Lebkuchenbäckers Vinzenz Fettmilch die Judengasse. Die Juden wurden aus der Stadt gewiesen und verließen diese auf Schiffen. Der Kaiser und benachbarte Fürsten griffen jedoch sofort ein, so dass der Aufstand gegen den Rat schnell zusammenbrach. Die Anführer der Bürgerschaft wurden hingerichtet und die Frankfurter Juden unter dem Geleit kaiserlicher Truppen in die Judengasse zurückgeführt. Zur Erinnerung an ihre Errettung feierten die Frankfurter Juden seit jener Zeit an diesem Tag das Vinzenz-Purim-Fest. Ihr bisheriges dreijähriges Aufenthaltsrecht wurde nun in ein unbefristetes Bleiberecht umgewandelt. Hin und wieder brachen in der Judengasse schlimme Brände aus, zum Beispiel im Januar 1711 im Haus des Rabbiners Naphtali Cohen. Da dieser Feuersbrunst fast sämtliche Häuser der Judengasse zum Opfer gefallen waren, gewährten christliche Bürger der Stadt obdachlos gewordenen Juden Unterkunft. Kaum aber waren die Schäden behoben, wurde der alte Zustand auf Anordnung des Rates wieder hergestellt. 1721 brannte der Nordteil der Gasse ab, und 1774 wurde ein Teil der Judengasse abermals durch ein Großfeuer zerstört. Viele Familie erlitten große materielle Verluste und verarmten. - Beim Löschen des letzten Brandes soll sogar der

junge Johann Wolfgang Goethe mitgeholfen haben. In seiner Kindheit hatte auf ihn die enge dunkle, von Menschen wimmelnde Judengasse den Eindruck eines düsteren Geheimnisses gemacht, das ihn einerseits abstieß und andererseits seine Neugierde weckte. Die jiddische Sprache in ihrer besonderen Frankfurter Ausprägung wiederum empfand er im Alter von zehn Jahren als "barock und unerfreulich". - Aber zurück zur Judengasse. Die Juden blieben dort bis 1796, bis französische Truppen Frankfurt und den Nordteil der Judengasse in Brand schossen, so dass die Juden erneut gezwungen waren, sich in anderen Teilen der Stadt eine Unterkunft zu suchen. Inzwischen hatte auch in Frankfurt die Diskussion um die rechtliche Gleichstellung der Juden begonnen. Infolgedessen brauchten die Juden nach dem Wiederaufbau der Häuser nicht mehr, in ihre alte Gasse zurückzukehren. Da aber die Mauern des Ghettos letztlich nicht durch eine liberale Verfügung des Stadtrates niedergerissen worden waren, sondern durch französische Revolutionsheere, bedankte sich die jüdische Gemeinde später bei Napoleon mit einer Ode. Als 1811 die Frankfurter Juden offiziell die Erlaubnis erhalten hatten, sich auch in den übrigen Stadtteilen niederzulassen, folgten ihr freilich nur die Wohlhabenderen, die ärmeren blieben zurück. Zu ihnen gesellten sich nun auch arme Christen. Allerdings waren inzwischen statt der engen Fachwerkhäuser großzügige Bauten im klassizistischen Stil errichtet worden. Das Bankhaus der Familie Rothschild beispielsweise nahm jetzt den Raum von fünf abgebrannten Häusern ein. Später wurde die Judengasse ganz abgerissen und geriet in Vergessenheit. Man erinnerte sich erst wieder an sie, als im Herbst 1987 bei Erdarbeiten der Stadtwerke siebzehn Kellerfundamente freigelegt wurden. Die Reste dieser unwiederbringlich steinernen Zeitzeugen deutsch jüdischer Stadtgeschichte - ein erheblicher Teil fiel trotz Proteste engagierter Bürger dem Bauprojekt zum Opfer - sind heute in einer modernen Schalterhalle zu besichtigen.


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