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Der Begründer des modernen Judentums brachte den Juden "europäisches Licht"

Zum 280.Geburtstag von Moses Mendelssohn

Moses Mendelssohn war der Begründer des modernen Judentums und der erste Jude, der in der deutschen Kultur voll und ganz aufging, und als Philosoph und Gelehrter in ganz Europa geschätzt und bewundert wurde. Er war ein enger Freund Lessings und anderer herausragender Vertreter der deutschen Aufklärung. Seine Zeitgenossen priesen ihn oft überschwänglich. Christian Martin Wieland grüßte ihn "mit dem heiligen Namen der Freundschaft". Man nannte ihn auch einen "deutschen Sokrates" oder einen "jüdischen Luther". Da er für einen aufgeklärten säkularen Staat eintrat, verglich Mirabeau ihn mit den Vätern der amerikanischen Verfassung.

Mendelssohn selbst war nicht verborgen geblieben, wie er allmählich vom "Ewigen Juden" zum "Platon der Deutschen" mutierte und bemerkte einmal ironisch:" Ich erkenne mein Bildniß, aber nicht so, wie ich es etwa im Spiegel wahrnehme, sondern wie ich meiner besten Freundin dreist in einem Morgentraume erschienen seyn mag."

Mendelssohn, der der Auffassung war, dass eine grundsätzliche Verwandtschaft zwischen der Aufklärung und den klassischen Quellen des Judentums vorhanden sei, hat den Dreiklang Aufklärung, Kultur und Bildung in den Diskurs des Zeitalters eingeführt. Mit christlichen und jüdischen Intellektuellen, die sich der Aufklärung oder der Haskala verpflichtet fühlten, stritt er für Toleranz, Erziehung und Bildung und veranlasste Reformen, die weder von der christlichen noch der jüdischen Orthodoxie gebilligt wurden.

Mendelssohn, den man zu Recht den Stifter des Deutschjudentums nennt, wollte die Juden aus ihrer kulturellen Isolation befreien und sie durch weltliche Bildung zu gleichberechtigten Bürgern reifen lassen. Er hat selbst vorgelebt und bewiesen, dass eine kreative Teilnahme der Juden an der modernen säkularen Kultur nicht mit der Verleugnung des traditionellen jüdischen Glaubens und seiner Praxis einhergehen muss. Schon früh bewegte er sich in zwei getrennten Sphären: in der jüdischen Tradition und in der modernen Welt der Aufklärung und versuchte, die strenge Beachtung der religiösen Gesetze mit aufklärerischer Toleranz und Meinungsfreiheit in Einklang zu bringen. Gleichwohl war und blieb er in erster Linie Jude, der mit all den Schwierigkeiten und Umständen zu kämpfen hatte, die eine jüdische Existenz in seiner Zeit noch mit sich brachte. Denn im Preußen Friedrichs II. war er wie viele seiner Glaubensgefährten nur ein geduldeter Jude.

Doch betrachten wir zunächst seinen Lebenslauf. Geboren wurde er am 6.September 1729 in Dessau als Sohn der Bela Rachel und des Gemeindeschreibers und Türklopfers Mendel. Später nahm Moses nach deutschem Brauch den Nachnamen Mendelssohn an. Schon früh litt er unter einer starken Verkrümmung des Rückgrats und neigte zum Stottern. Sein Sohn Joseph beschreibt den Vater aus der Erinnerung: "Er war von kleiner Statur, verwachsen in den Schultern, die einen starken Höcker bildeten, er stotterte oft im Sprechen. Im Gegensatz zu dieser misslichen Leibesgestalt war der Kopf sehr schön gebildet, und alle seine Gesichtszüge verkündeten einen hohen Geist und ein herrliches Gemüt."

"Es dürfte kaum ein Werk .. von ihm geben, was außerhalb der wissenschaftlichen Kreise noch gelesen wird. Aber seine Figur blieb uns vertraut, die so ist, wie man sie gern zu einem Philosophen wünscht: klein bucklig, hässlich, dabei schalkhaft, liebenswürdig und, wenn es darauf ankam, mit dem lächelnden Mute des Geistes ausgerüstet", schrieb 1929 der jüdische Schriftsteller Arthur Elsoesser, als Mendelssohns 200.Geburtstag Anlass bot, sich wieder mit ihm zu beschäftigen.

Als er im Alter von vierzehn Jahren 1743 seinem Lehrer, dem Rabbiner Fränkel mittellos nach Berlin folgte - drei Jahre zuvor hatte Friedrich II. den preußischen Thron bestiegen -, wurde er an dem Stadttor, das für Juden bestimmt war, gefragt, was er in Berlin wolle. "Lernen", soll er geantwortet haben. "Wohin?" " Zu Rabbi David Fränkel". Selbst wenn das nur eine von den vielen Legenden ist, die sich später um den "Sokrates von Berlin" rankten, so ist sie doch gut erfunden. Denn Lernen bedeutete für Juden eine lebenslange Pflicht und war wie das Beten Ausdruck ihrer religiösen Lebensform. In den Journalen der Wache fand sich an diesem Oktobertag 1743 die Eintragung: "Heute passierten das Rosenthaler Tor sechs Ochsen, sieben Schweine, ein Jude."

In Berlin galt Moses als ausländischer Jude. Er durfte sich hier nur solange aufhalten, solange ihn die Gemeinde als Talmudschüler des Rabbiners Fränkel unterstützte. 1750 wurde er Hauslehrer in der Familie des ordentlichen Schutzjuden Isaac Bernhard. Von nun an brauchte er sich um seine Aufenthaltserlaubnis und um sein tägliches Brot keine Sorgen mehr zu machen. Er erhielt ein regelmäßiges Gehalt und hatte Zeit für seine Studien. Als die Kinder ihres Erziehers nicht mehr bedurften, stellte ihn Bernhard 1754 in seiner Seidenfabrik als Buchhalter an, womit sein Aufenthalt weiter garantiert war. 1761 wurde Mendelssohn Geschäftsführer der Bernhardschen Manufaktur. 1762 erhielt er das Niederlassungsrecht und verlobte sich im selben Jahr mit der Hamburgerin Fromet Gugenheim. Da Moses kein Schutzjude und die Braut Ausländerin war verzögerte sich die Hochzeit um ein Jahr. 1763 wurde ihm endlich - zwanzig Jahre nach seiner Ankunft in Berlin - das ersehnte Privileg als "außerordentlicher Schutzjude" zuerteilt, das jedoch nur für seine Person, nicht aber für seine Familie Gültigkeit hatte.

Seine Familie durfte daher nach seinem Tod nur durch einen "speziellen Gnadenerweis" des preußischen Königs Friedrich Wilhelm II. in Berlin bleiben.

"Zwar blüht unter der Regierung eines Friedrich die Freiheit zu denken", berichtet er 1762 dem Schweizer Historiker Iselin, "allein Sie wissen, wie wenig Anteil meine Glaubensbrüder an allen Landesfreiheiten haben. Die bürgerliche Unterdrückung, zu welcher uns ein sehr eingerissenes Vorurteil verdammt, liegt wie eine tote Last auf den Schwingen des Geistes und macht sie unfähig, den hohen Flug des Freigeborenen jemals zu versuchen."

Im Jahr 1774 befreite man ihn von allen Gemeindeabgaben und gestattete ihm, sich auch in den Gemeinderat wählen zu lassen. 1780 wurde er Schatzmeister.

Und wie wurde Moses Mendelssohn zum "Juif Berlin", zum Juden von Berlin, zu einer international geachteten Persönlichkeit, zum Briefpartner von Gelehrten und Lesern in ganz Europa, bis weit nach Russland hinein, dessen Umgang auch junge Christen suchten?

Von Fränkel hatte er den Talmud sowie Maimonides' "Führer der Unschlüssigen" kennen gelernt und von anderen Lehrern Französisch, Italienisch, Englisch, Latein, Griechisch und Mathematik. In Politik und Literatur schloss er sich seinen Freunden Christoph Friedrich Nicolai und Gotthold Ephraim Lessing an. In der Philosophie war er Schüler der Lehren von Baruch de Spinoza, Gottfried Wilhelm Leibniz und Christian Wolff.

"Übrigens bin ich nie", meinte Mendelssohn in späteren Jahren, "auf einer Universität gewesen, habe auch in meinem Leben kein collegium gehört. Dieses war eine der größten Schwierigkeiten, die ich übernommen hatte, indem ich alles durch Anstrengung und eigenen Fleiß erzwingen musste."

Vom Arzt Aron Salomon Gumpertz war er in das intellektuelle Leben Berlins eingeführt worden. "Durch den Umgang mit ... Herrn Aron Gumperz", schrieb Mendelssohn nach dessen Tod 1769, "habe ich Geschmack an den Wissenschaften (gewonnen), dazu ich auch von demselben einige Anleitung erhielt." Durch den Verlagsbuchhändler Friedrich Nicolai - nach Lessing war ihm dieser Freund "alles" - avancierte er zu einem der ersten und besten Literaturkritiker seiner Zeit, der über alle deutschen und europäischen Neuerscheinungen auf dem laufenden war und auch Werke von Kant rezensierte.

Das Erscheinen von Lessings Stück "Die Juden" im Jahr 1754 rief sofort eine Kontroverse über die Wahrscheinlichkeit der Figur des "edlen Juden" hervor. Der Orientalist Johann David Michaelis übte im "Göttinger Gelehrtenanzeiger heftige Kritik an dem Buch. Darüber äußerte sich wiederum Mendelssohn empört. Er wolle nicht außer dem Hass der Christen auch noch ihre Verleumdung ertragen müssen. Kaum sei einmal den Juden ein wenig Tugend zugebilligt worden, schon verweigere der Autor der Rezension sie ihnen wieder. "Diese Leute denken der Christlichen Religion einen großen Vorschub zu thun, wenn sie alle Menschen, die keine Christen sind, für Meuchelräuber und Straßenräuber erklären. Ich bin weit davon entfernt, von der Christlichen Religion so schimpflich zu denken", schrieb Mendelssohn in seiner Kritik.

Mendelssohns Freundschaft mit Lessing fand 1783 in Lessings "Nathan der Weise " ihren Niederschlag. Bekanntlich sichern hier die vom Vater hinterlassenen Ringe jedem der drei Söhne die Liebe Gottes und der Menschen, wenn sie nur in gutem Glauben getragen werden. Viele waren als "Deutsche" und "Christen" beleidigt. Doch Generationen deutscher Juden sahen in Lessings Stück ihre Magna Charta und glaubten, wie Lessing und Mendelssohn, dass es genüge, ein anständiger Mensch zu sein, um als gleichberechtigt anerkannt zu werden. Auf die Frage des Sultans nach seiner Identität antwortet Nathan: "Ich bin ein Mensch." Bis heute klatschen die Zuschauer an dieser Stelle.

Als Lessing Moses Mendelssohn einmal nach seiner Meinung über ein Buch des englischen Philosophen Shaftesbury fragte, das er ihm kurz zuvor mitgebracht hatte, antwortete der jüdische Philosoph: "Nun ja, recht gut, aber so etwas kann ich auch machen." "So", meinte Lessing. "Dann machen Sie doch so etwas." Wenig später übergab ihm Mendelssohn das Manuskript der "Philosophischen Gespräche." Einige Monate später fragte er Lessing, ob er den Text gelesen habe, woraufhin dieser ihn mit einer gedruckten, gebundenen Ausgabe überraschte, die kurz zuvor in Nicolais Verlag erschienen war.

Weitere Werke Mendelssohns folgten rasch nach: Seine Briefe "Über die Empfindungen" (1755) - sie begründen seine philosophisch-ästhetische Kritik - und "Phädon oder Über die Unsterblichkeit der Seele" (1767) - eine geistreiche Adaption von Platons Dialog über die Unsterblichkeit, in der es Mendelssohn unternahm, die Existenz Gottes allein durch die Vernunft zu beweisen, ohne Rückgriff auf die Offenbarung.

Kaum war der "Phädon" erschienen, wurde er überall als epochemachendes Werk gefeiert, von Herder, Kant und vielen anderen Persönlichkeiten. Einige Zeit später war in der "Allgemeinen Deutschen Biographie", in die jeder General, aber beileibe nicht jeder jüdische Wohltäter aufgenommen wurde, zu lesen: "Die besten Köpfe Deutschlands bewunderten das Werk und näherten sich voll Verehrung und Liebe seinem Verfasser."

Vier Jahre zuvor, 1763, hatte Mendelssohn mit seiner Abhandlung "Über die Evidenz der metaphysischen Wissenschaften" den ersten Preis der Akademie gewonnen. Sein Aufsatz hatte genauso viele Stimmen erhalten wie die Arbeit von Kant, die mit einem Trostpreis bedacht wurde. In seinem Vorwort zu "Prolegomena" schreibt der Königsberger Philosoph:"Es ist nicht jedermann gegeben, so subtil und doch zugleich so anlockend zu schreiben als David Hume oder so gründlich und dabei so elegant als Moses Mendelssohn."

1771 wurde Mendelssohn auf Vorschlag Sulzers in die Berliner Akademie gewählt, doch Friedrich II. lehnte die Bestätigung der Wahl ab. Als Mendelssohn dies erfuhr, bemerkte er lakonisch: "Besser als wenn der König mich gewählt, die Akademie aber mich nicht bestätigt hätte."

1769 forderte der Schweizer Theologe und Physiognom Johann Caspar Lavater Mendelssohn auf, die von Charles Bonnet in einer Studie vorgelegten Beweise für das Christentum öffentlich zu widerlegen oder zum Christentum überzutreten. Diese Affäre wurde ein Wendepunkt in Mendelssohns Leben und seiner schriftstellerischen Laufbahn. In seiner "Confession Judaica" ließ er keinen Zweifel daran, dass er die Absicht habe, am Glauben seiner Väter festzuhalten, und wehrte Lavaters Bekehrungsversuch ab. Er wolle, ließ er Lavater in seinem Antwortschreiben wissen, nach den Grundsätzen seiner Religion keinen bekehren, der nicht nach "unserm Gesetz geboren ist." Dabei wies er deutlich auf den Unterschied zwischen christlichem Bekehrungseifer und jüdischer Toleranz hin. Für ihn galt es als ausgemacht - gut aufklärerisch -, dass alle Menschen, die vernünftig und tugendhaft leben, vor Gottes Gericht nichts zu befürchten hätten. Die jüdische Religion, betonte er, kenne keine Mission Andersgläubiger, ihre Gesetze gelten nur für Juden, sie erkenne aber die Gerechten und Tugendhaften aller Völker an und halte sie des ewigen Heils für fähig. "Die verächtliche Meinung, die man von einem Juden habet, wünsche ich durch Tugend und nicht durch Streitschriften widerlegen zu können." Er habe seine Religion seit frühester Jugend und auch als Philosoph geprüft und keinen Anlass gehabt, ihr den Rücken zu kehren.

An den Erbprinzen von Braunschweig richtete er im Januar 1770 folgende Zeilen: "Da die Menschen alle von ihrem Schöpfer zur ewigen Glückseligkeit bestimmt sind, so kann eine ausschließende Religion nicht die wahre sein. Diesen Satz getraue ich mir als Kriterium der Wahrheit in Religionssachen anzugeben."

Am Ende hat sich Lavater bei Mendelssohn entschuldigt und bedauert, dass er den von ihm Verehrten verletzt habe. Versöhnlich klingt auch Mendelssohn Antwort vom 9.März 1770 an Lavater: "Kommen Sie, wir wollen uns in Gedanken umarmen! Sie sind ein christlicher Prediger und ich ein Jude! Was tut dieses? Wenn wir dem Schafe und dem Seidenwurm wiedergeben, was sie uns geliehen haben, so sind wir beide Menschen. Wir wollen uns einander aufrichtig alle Unruhe vergeben, die wir uns wechselweise gemacht haben."

Die Auseinandersetzung zwischen Lavater und Mendelssohn war die erste öffentlich geführte Religionsdisputation, bei der ein Jude moralischer Sieger blieb. Gleichwohl bereitete die Lavater-Affäre dem jüdischen Philosophen viel Ärger und schlaflose Nächte und verursachte ein psychosomatisches Nervenleiden, das ihn jahrelang an konzentrierter geistiger Arbeit hinderte. Nachdem die Querelen ausgestanden waren, wandte sich Mendelssohn intensiv jüdischen Studien zu und begann mit der Übersetzung des Pentateuch und der Psalmen aus dem Hebräischen ins Deutsche, um den in Deutschland lebenden Juden die volle Beherrschung der deutschen Sprache zu erleichtern und damit die deutsche Kultur näher zu bringen.

Tatsächlich hat der jüdische Philosoph, wie Arnold Zweig später schrieb "den Juden deutsche Sprache, Bildung, Freiheit, Europa gebracht, in ihre harte Enge, in ihre spießige Finsternis trug er europäisches Licht."

Der mit Mendelssohn befreundete und von ihm beeinflusste preußische Staatsrat Christian Wilhelm von Dohm forderte 1781 in seinem epochemachenden Buch "Über die bürgerliche Verbesserung der Juden", die jüdische Sonderexistenz aufzuheben. Ähnlich wie Lessing leitete er die elende soziale Lage der Juden nicht von irgendwelchen natürlichen Anlagen oder religiösen Gebräuchen her, sondern von der jahrhundertelangen Unterdrückung durch die christliche Umwelt.

Nach dem Erscheinen von Dohms Schrift sah sich Mendelssohn zu einer Stellungnahme veranlasst. Er tat dies in einer ausführlichen Vorrede zu der 1783 auf seine Veranlassung in deutscher Übersetzung erschienenen Schrift "Rettung der Juden" des holländisch-portugiesischen Amsterdamer Rabbiners und Spinoza-Lehrers Manasseh Ben Israel. Der 1604 in Lissabon geborene und später von Rembrandt porträtierte Rabbiner hatte 1656 eine Schrift zugunsten der Juden auf Englisch verfasst, in der er die judenfeindlichen Vorurteile des Mittelalters und des Barock Punkt für Punkt widerlegte, um Cromwell für die Wiederaufnahme der Juden in England zu gewinnen. Übersetzt hat das Buch allerdings nicht Mendelssohn, sondern sein Freund Markus Herz. Moses schrieb lediglich die "Einleitung", die jedoch Gegenschriften auslöste, wohlwollende und gehässige, so dass sich Mendelssohn genötigt sah, ein weiteres umfangreicheres Traktat zu verfassen, das 1783, drei Jahre vor seinem Tod unter dem Titel "Jerusalem oder über die religiöse Macht des Judentums" veröffentlicht wurde. Moses Mendelssohn hat hierin seine Grundsätze über Staat und Religion in aller Offenheit dargelegt und mit Nachdruck Glaubensfreiheit vom Staat und Gewissensfreiheit von der Kirche gefordert.

Weder Staat noch Kirche hätten das Recht, so Mendelssohn, den einzelnen auf irgendwelche religiöse, weltanschauliche oder moralische Überzeugungen festzulegen. Der Staat sollte zwar das Recht haben einzuschreiten, wenn die ethischen und sozialen Grundlagen des Staates gefährdet waren, wenn zum Beispiel die Staatsautorität durch Atheismus, Epikureismus oder Fanatismus in Frage gestellt sein sollte. Aber grundsätzlich habe der Staat in Fragen der Religion eine Haltung der Neutralität einzunehmen. "Solange ein Atheist nicht die Gesellschaft stört, darf er Atheist sein." Auch die Kirche dürfe sich, um ihre Religion durchzusetzen, nicht der Staatsgewalt bedienen. Gesinnungen, Meinungen und Überzeugungen sollten weder durch den Staat noch durch die Kirche eingeschränkt werden.

Dass ausgerechnet ein rechtloser Jude es wagte, freimütig das Verhältnis von Staat und Kirche zu erörtern sowie für die Prinzipien Gewissensfreiheit und Gerechtigkeit einzutreten und durch seine aktive Beteiligung an der öffentlichen Toleranzdebatte Juden, die bisher nur stumme Empfänger von staatlichen Edikten waren, eine hörbare Stimme verlieh, hatte man bislang noch nicht erlebt.

In seinem 1785 veröffentlichten Band "Morgenstunden oder Vorlesungen über das Daysein Gottes" hat Mendelssohn seine eigene Weltsicht erläutert. In seiner Streitschrift "An die Freunde Lessings" wiederum wandte er sich gegen Jacobis Behauptung, dass Lessing ein Spinozist, nach damaliger Auffassung ein Atheist, gewesen sei. Als der 66jährige Moses das umfangreiche Konvolut zur Post brachte, um es seinem Verleger Friedrich Voß und Sohn zu senden, hat er sich so sehr verkühlt, dass er wenige Tage später starb. Es war der 4.Januar 1786. Sein Tod wurde weithin von Juden und Nichtjuden betrauert, als der Verlust eines der Mitbegründer des deutschen Humanismus und Verteidiger des politischen Liberalismus. Hatte er doch zusammen mit seinen Freunden unermüdlich für Toleranz und für die rechtliche Gleichstellung der Juden gestritten.

Die damaligen Aufklärer sahen weder in der Religionsausübung noch in den Ritualgesetzen der Juden ein Hindernis für ihre Emanzipation. Das änderte sich nach Mendelssohns Tod. Plötzlich wurde nicht mehr gefragt, was der christliche Staat tun müsse, um aus Juden nützliche Bürger zu machen, sondern welche Voraussetzungen Juden erfüllen müssten, um der Staatsbürgerschaft würdig zu werden. Jetzt fragten die radikalen jüdischen Reformer, was Juden unternehmen und welche Opfer sie bringen müssten, um die Bürgerrechte zu verdienen. Plötzlich ging es um Glaubenseinheit und Gleichberechtigung, nicht so sehr mehr um religiösen Pluralismus und Toleranz. Der gesunde Pragmatismus von Mendelssohn und seinem Kreis machte jetzt einer idealistischen Überschwenglichkeit Platz, die die jüdische Frage wieder zu einem Religionsproblem werden ließ. Nur ging es jetzt nicht mehr um Judentum contra Christentum, sondern um die Reinheit einer gemeinsamen Vernunftreligion.

Seinen Ruhm als Philosoph hat Moses Mendelssohn nicht überlebt. Er war wohl der geistvolle und beredte Interpret der philosophischen Anschauungen und Gedanken seiner Zeit. Doch hat er mit seiner Philosophie keine Epoche gemacht, wie Kant vorausgesagt hat, und ist auch nicht, wie Lessing prophezeit hat, ein zweiter Spinoza geworden. Er blieb Zeit seines Lebens der Leibniz-Wolffschen Philosophie verhaftet. Einfluss hatte er allenfalls auf die Entwicklung der Ästhetik und die Literaturkritik ausgeübt. Stets war er in seiner Kritik bemüht gewesen, den Menschen den Weg zur Vollkommenheit zu weisen.

Aber er hat gezeigt - und darin liegt sein Verdienst -, dass ein Ausgleich zwischen den Werten des Judentums und der modernen Welt- und Lebensanschauung möglich ist. Er hat mitgeholfen, die Vorbedingungen zu schaffen, Juden den Ausbruch aus dem Ghetto und den Eintritt in die bürgerliche Gesellschaft der Neuzeit ermöglichen.

Er stand am Schnittpunkt zweier Epochen, die die Umwandlung der ständisch feudalen zur bürgerlich kapitalistischen Gesellschaft herbeiführten. Mit seinem Namen werden grundlegende Strukturveränderungen verbunden. Die Nachwelt hat ihm deshalb, gleichgültig welche Position sie einnahm, Aufmerksamkeit entgegenbringen müssen. Gerechtigkeit ist ihm dabei nicht immer widerfahren.

Doch übten sein Leben und Denken einen nachhaltigen Einfluss aus auf die nachfolgende Entwicklung des liberalen Judentums, die "Wissenschaft des Judentums" und die europäische jüdische Philosophie des 19.Jahrhunderts.

Seine Wirkung auf Juden und Christen wird vor allem seinem einnehmendem Wesen, seiner Persönlichkeit zugeschrieben. Als das Ehepaar Mendelssohn eines Abends ein Berliner Konzerthaus betrat, erhob sich das Publikum und applaudierte. Mendelssohn wusste, dass diese Leute nicht unbedingt für Toleranz waren. Indem sie ihn als edlen, mithin "unjüdischen" Juden betrachteten, beklatschten sie ihr eigenes Vorurteil.

Die Frage, warum er, Mendelssohn, der doch an Gott den Vater glaube, nicht auch an Gott den Sohn glauben könne, es sei doch uralte jüdische Tradition, dass Söhne schon vor dem Tod des Vaters ihren Erbanteil oder zumindest Kredit darauf erhielten, ist uns samt Antwort in Versform überliefert.

"An Gott, den Vater, glaubt ihr schon,

So glaubt doch auch an Gott, den Sohn

Ihr pflegt doch sonst bei Vaters Leben

Dem Sohne schon Kredit zu geben."

Darauf antwortete Mendelssohn:

"Wie sollen wir ihm Kredit geben,

der Vater soll doch ewig leben?"

In rabbinischen Zirkeln sagte man: "Von Moses bis Moses gab es keinen wie Moses, während es im christlichen Milieu, etwa bei Goethe, prosaischer hieß: " Es ist ein Gott, das sagte Moses schon/Doch den Beweis gab Moses Mendelssohn."

Mit Mendelssohn und Lessing hat das Gespräch zwischen Nichtjuden und Juden seinen Anfang genommen. Zu einer wirklichen "Symbiose aus deutschem und jüdischem Geist" ist es freilich nicht gekommen, wie Gershom Scholem resigniert festgestellt hat. Das Gespräch scheiterte, als klar wurde, dass nur eine Seite bereit war, mit der anderen zu sprechen. Wo Deutsche sich auf eine Auseinandersetzung mit den Juden einließen, forderten sie in der Regel, dass Juden ihre Idendität aufgeben sollten. Spätestens unter Hitler zeigte sich dann, dass auch der Verzicht auf die Jüdische Identität um der Emanzipation willen verhängnisvoll gewesen war, als deutlich wurde, dass sogar eine Kulturnation fähig war, sich auf ein System der Unfreiheiten umzustellen und vor einem Abgleiten in Unmenschlichkeit nicht gefeit war. Der Versuch der "Endlösung" der "Judenfrage", die das Volk der "Dichter und Denker" zu einem Volk der "Richter und Henker" werden ließ, hat im jüdischen Denken und Fühlen tiefe Narben hinterlassen.

Noch immer schwankt Mendelssohns Bild in der Geschichte. Seine Verehrer sehen in ihm den Prototyp eines Juden, der den Widerspruch zwischen traditionellem Judentum und moderner Welt zu versöhnen suchte, während seine Kritiker ihn für den Anfang einer Entwicklung mitverantwortlich machen, der das Judentum auf den schlüpfrigen Pfad der Assimilation geführt hat.

Seit 1994 verleiht das Moses-Mendelssohn-Zentrum für europäisch-jüdische Studien die Moses-Mendelsohn-Medaille an Persönlichkeiten, die sich für Toleranz und Völkerverständigung sowie für eine Verbesserung der deutsch-jüdischen Beziehungen einsetzen. Zu den Preisträgern gehören Ignatz Bubis (1994), Kurt Biedenkopf (1998), Charlotte Knobloch (2008) und in diesem Jahr der Dirigent und Pianist Daniel Barenboim.

Der Aufsatz erschien in der Zeitschrift "Tribüne. Zeitschrift zum Verständnis des Judentums". Heft 190, 2.Quartal 2009.und in der Literaturzeitschrift "Literaturkritik.de" in Heft 9/ September 2009


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